Locarno 2012: Goldener Leopard für "La fille de nulle part"“

Juryentscheidungen bei Filmfestivals überraschen immer wieder. Jean Claude Brisseaus "La fille de nulle part" rechnete wohl kaum jemand zu den Favoriten. Hoch gehandelte Filme wurden dagegen von der offiziellen Jury weitgehend übergangen.

Einige Filme konnte man sich als Gewinner des Goldenen Leoparden vorstellen. Dass die Jury unter der Leitung des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul den mit 90.000 Schweizer Franken dotierten Hauptpreis aber "La fille de nulle part" des Franzosen Jean-Claude Brisseau zusprechen würde, war kaum zu erwarten.

Vor allem ist dieser Film nämlich eine Selbstinszenierung Brisseaus, der in der Hauptrolle als Mathematikprofessor eine junge Frau bei sich aufnimmt. Von Ironie durchzogen sind zwar ihre Diskussionen über Leben, Wissenschaft und Religion, filmisch aufregend ist das beinahe ausschließlich in der Wohnung des Professors spielende Kammerspiel aber kaum, auch wenn hie und da auftauchende Geister, deren Existenz der Professor partout leugnet, für ein paar Lacher sorgen.

Überraschend sind auch die Auszeichnungen für die Regie und für die beste Darstellerin für den chinesisch-südkoreanischen Film "Wo hai you hua yao Shuo" ("When Night Falls"). Politisches Engagement zeigt Ling Yiang zwar, wenn er den realen Fall einer Mutter, die verzweifelt die Hinrichtung ihres Sohnes zu verhindern versucht, nachinszeniert. Die Inszenierung in langen statischen Einstellungen mag dabei auch durchaus die Machtlosigkeit der Mutter vermitteln, doch der Verzicht auf Dramatisierung wirkt auf den Zuschauer lähmend, lässt ihn die Schikanen und Winkelzüge der Justiz zwar erkennen, packt ihn aber kaum emotional.

Überraschend kommt auch der Spezialpreis der Jury für "Somebody Up There Likes Me", mit dem Bob Byington ein zwar charmanter, aber doch auch sehr leichtgewichtiger US-Indie-Film gelang. Fast schon als Witz muss man die Besondere Erwähnung für die Figur der "Candy" im portugiesischen Film "A ultima vez que vi Macau" ansehen, bleibt diese Figur im Film doch ein Phantom.

Allein der Darstellerpreis für Walter Saabel in Tizza Covis und Rainer Frimmels "Der Glanz des Tages" ging an einen Favoriten, ansonsten mussten sich diese Filme mit Preisen der Unabhängigen Juries begnügen.

Arg konventionell fiel die Entscheidung der Ökumenischen Jury aus, die ihren Preis "Une estonienne à Paris" verlieh. Immerhin schaute hier auch eine Lobende Erwähnung für "Der Glanz des Tages" heraus. Für Radikales entschied sich dagegen die Jury der Filmkritiker (Fipresci), die ihren Preis an den experimentellen Dokumentarfilm "Leviathan" vergab.

Keine Überraschung gab es beim Preis der Semaine de la critique, der an David Sievekings "Vergiss mein nicht" ging und auch mit dem Prix du public für "Lore" in einem insgesamt wenig glanzvollen, aber soliden Piazza-Programm kann man leben.