Locarno 2012: Die Hinfälligkeit des Menschen

Wiederkehrendes Thema ist beim 65. Filmfestival von Locarno quer durch die Sektionen die Auseinandersetzung mit Alter, Krankheit und Tod: David Sieveking begleitet in seinem Dokumentarfilm "Vergiss mein nicht" seine an Alzheimer erkrankte Mutter, Stéphane Brizé erzählt in "Quelques heures de printemps" von der schwierigen Beziehung zwischen einer todkranken Frau und ihrem Sohn und Jeanne Moreau brilliert in "Une estonienne à Paris" als pflegebedürftige alte Dame.

Schon in seinem letzten Film "David Wants to Fly" machte David Sieveking seine eigene Krise und seine sich im Laufe des Films ändernde Einschätzung von David Lynch zum Filmthema. Radikal persönlich ist auch sein neuer Dokumentarfilm "Vergiss mein nicht", der in Locarno im Rahmen der Semaine de la Critique lief.

Im Mittelpunkt von "Vergiss mein nicht" steht die Mutter des Regisseurs, die mit 70 Jahren an Alzheimer erkrankte. Ausgangspunkt des Films ist ein Urlaub, den der Vater, der seine Frau sonst alleine betreut, machen will. Sohn David wird sich während dieser Zeit um seine Mutter kümmern. Mit der Kamera dokumentiert er, wie er versucht sie zu mobilisieren, wie ihn die Aufgabe erschöpft, wie er mit ihr aber auch Aktivitäten setzt. Auf einen Besuch im Schwimmbad folgt bald ein Ausflug zur älteren Schwester der Mutter in Stuttgart und schließlich eine Fahrt zum Urlaubsort des Vaters im Berner Oberland.

Die Besuche und Reisen bieten Sieveking dabei auch immer wieder die Möglichkeit ganz beiläufig und punktuell auf die Biographie der Mutter und die Familiengeschichte zu blicken. Aufgelockert mit Fotos bekommt man so einen Einblick in ihre Kindheit, aber auch in ihre politisch aktive Zeit im Zürich der 1970er Jahre und die freie Ehe, die Eltern damals lebten.

Nie kommt hier auch nur ein Funke von Voyeurismus auf, warmherzig-mitfühlend ist der Blick von der ersten Sekunde an. Und so schwer das Thema auch ist, so leicht kommt "Vergiss mein nicht" dennoch daher. Keine erschütternde Studie eines Zerfalls ist das, sondern ein zärtlicher Film, der trotz des sich zunehmend verschlechternden Zustands der Porträtierten das Leben feiert.

So tragisch und nur schwer zu ertragen es sein mag, wenn die Mutter Vater und Sohn nicht mehr erkennt, so reizen hier doch solche Gedächtnislücken immer wieder zum Lachen, denn Humor scheint das Einzige zu sein, das solche Situationen und das Leben mit der Krankheit erträglich macht. - Mit viel Liebe und einem Lächeln wird hier dem Unabwendbaren ins Auge gesehen.

Das Feingefühl, das Stéphane Brizé schon in "Je ne suis pas lá pour être aimé" und "Mademoiselle Chambon" zutage legte, kennzeichnet auch "Quelques heures de printemps", der auf der Piazza Grande seine Uraufführung feierte. Die Haftentlassung von Alain verlegt Brize ganz auf die Tonebene und spult sie zu schwarzer Leinwand und weissen Vorspanntiteln ab. Ein neues Leben sollte für den Endvierziger nun beginnen, doch das ist leichter gesagt als getan.

Bis alain wieder einen Job findet und sich selbst eine Wohnung leisten kann, will er bei der Mutter einziehen. Fremd sind sich die beiden aber, ständig kracht es zwischen ihnen, denn die Mutter kritisiert den Sohn ständig, er wiederum ist ebenso cholerisch wie stur und lässt sich nichts sagen. Auch eine Beziehung zu einer jungen Frau zerbricht rasch wieder an Alains Schroff- und Verschlossenheit. Auch als Alain erfährt, dass seine Mutter bald sterben wird, scheint sich nichts an ihrer Beziehung zu ändern. Und doch ist er der Einzige, der sie auf diesem letzten Weg begleiten muss.

Was ein tränendrückendes Melodram werden könnte, wird von Brize mit so viel Zurückhaltung, die in diesem Film auch eine Haltung gegenüber den Figuren ist, inszeniert, dass Gefühle nicht aufgebauscht, sondern eher heruntergeschraubt werden. So unaufgeregt und nüchtern das auf den ersten Blick wirkt, so intensiv und dicht wird "Quelques heures de printemps" gerade durch die zurückhaltende Inszenierung. Langsam bauen sich hier in den langen Einstellungen Emotionen auf, die dann weit tiefer einfahren und länger haften bleiben als bei einer effektvoll-aufgedrehten Inszenierung. Vertrauen kann Brizé dabei freilich auch auf seine SchauspielerInnen. Phänomenal ist, was er aus Vincent Lindon, Helene Vincent und Emmanuelle Seigner bei ihren heftigen Wortduellen herausholt. Zu reden geben und Kritik hervorrufen, kann freilich das Finale, denn Brizé macht zwar dezent, aber doch unübersehbar in einem umstrittenen Punkt Werbung in eine bestimmte Richtung.

Immer noch eine Grande Dame des Kinos ist Jeanne Moreau, die dem Wettbewerbsbeitrag "Une estonienne à Paris" den Stempel aufdrückt. Als seit Jahrzehnten in Paris lebende Estin will sie nicht akzeptierten, dass ihr jüngerer ehemaliger Geliebter für sie eine Pflegerin besorgt. Ausgesprochen kratzbürstig reagiert sie deshalb auf Anne, die aus ihrem früheren Heimatland anreist. Vorhersehbar ist, dass sie mit ihrer Herzensgüte und Hartnäckigkeit und die grantige alte Frida, die immer noch auf Kosmetik, elegante Kleidung und stilvolles Frühstück wert legt, sich näher kommen werden.

Ein großer Film ist "Une estonienne a Paris" sicher nicht, denn die Geschichte bewegt sich in ausgetretenen Bahnen und ausgesprochen bieder, wenn auch sorgfältig ist Ilmar Raags Erzählweise. Dennoch bereitet es großes Vergnügen Jeanne Moreau und Laine Mägi zuzusehen, wie sich langsam näher kommen.