Locarno 2010: Olivier Pères Liebe zum kantigen Autorenfilm

Die großen Meisterwerke fand man im Wettbewerb des 63. Filmfestivals von Locarno nicht, wohl aber außergewöhnlich viele Filme, in denen die Regisseure nach einer eigenen filmischen Sprache suchten. Mit "Han Jia -Winter Vacation" von Li Hongqi wurde der vielleicht konsequenteste Film mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet. Enttäuschend war im Vergleich zum risikofreudigen Wettbewerb das Piazza-Programm.

Ein vornehmer englischer Herr erwartet einen Klempner, hält zuerst einen tschechischen Nazi-Flüchtling dafür und erkennt dann den sehnlich Erwarteten lange in einer jungen Frau nicht. Von dieser Ausgangssituation aus entwickelt sich eine hinreißende Komödie über englische Umgangsformen, einengende Rollenklischees und innere Befreiung durch Ausleben seiner Leidenschaften. – Wenn man sich beim Filmfestival von Locarno zehn Tage lang wirklich unterhalten wollte, Kino pur genießen wollte, musste man sich auf die große Ernst Lubitsch-Retrospektive einlassen, Filme wie den 1938 entstandenen "Cluny Brown" entweder entdecken oder einfach wiedersehen.

So locker und leicht, so elegant und gleichzeitig doch so vielschichtig wie bei den Lubitsch-Klassikern, ging es in den 18 Filmen des Wettbewerbs um den Goldenen Leoparden nie zu und her. Richtig rundes, allerdings auch zu konstruiertes Kino bot da nur "La petite chambre", davon abgesehen hat Olivier Père nur Filme mit Ecken und Kanten ausgewählt.

Wirklich begeistern konnte man sich zwar für kaum einen der Beiträge, denn jeder hatte seine Schwächen, aber bei fast jedem fand man auch aufregende Momente und spannende Akzente. So fulminant die Eröffnungen von "Womb" und "Im Alter von Ellen" waren, so sehr stürzten diese Filme mit zunehmender Dauer ab. Seine liebe Mühe konnte man auch mit der Kargheit des Siegerfilms "Han Jia - Winter Vacation" haben und auch Marian Crisans mehrfach ausgezeichneter rumänischer Beitrag "Morgen" hinterließ beim ersten Sehen einen zwiespältigen Eindruck.

Die Geschichte um einen Türken, der auf seiner Flucht nach Deutschland einen in der abgeschiedenen Provinz lebenden Rumänen bittet ihn über die Grenze nach Ungarn zu bringen, hat zwar aktuelles Potential und ist formal konsequent in seinen langen Einstellungen, seiner Wortkargheit und Lakonie, entwickelt aber sowohl zu wenig Spannung als auch zu wenig Momente trockenen Humors, um wirklich zu fesseln.

Dass das Herz der von Eric Khoo geleiteten Jury fürs radikale Kino schlug, zeigt sich auch an der doppelten Auszeichnung für Denis Côtés "Curling" (Preis für die beste Jury, Leopard für den besten Darsteller). Wie schon in "Elle veut le chaos" entführt der Frankokanadier auch hier in die triste Provinz von Quebec. Weil ein Vater von seiner zwölfjährigen Tochter alle schädlichen Einflüsse fernhalten will, hält er sie in ihrem abgelegenen Haus praktisch gefangen. Eindringlich fängt Côté, dem die heurige Viennale eine Werkschau widmen wird, zwar die kalte Winterstimmung ein, doch er fragmentiert die Erzählung so sehr, dass sich so viele Rätsel einstellen, dass man kein Interesse für die Figuren entwickelt.

So risikofreudig und vital sich der Wettbewerb zeigte, so belanglos waren bedauerlich viele Filme, die auf der Piazza Grande gezeigt wurden. Mit "Rubber" gab es zwar ein Highlight, aber der französische "L´avocat" kam in der Ausführung nicht über einen oberflächlichen und plakativen Fernsehkrimi hinaus, auch wenn er vom Plot her an Filme von Sidney Lumet oder Michael Mann erinnerte.

Gleiches gilt leider auch für den deutschen Thriller "Das letzte Schweigen", bei dem Baran bo Odar mit verschachtelter Erzählweise am Beginn, aufdonnerndem Sounddesign und zahlreichen Flugaufnahmen Spannung erzeugen will, letztlich aber nicht über einen aufgemotzten "Tatort" hinauskommt. Statt auf einer Figur oder ein Thema zu fokussieren, verliert sich "Das letzte Schweigen" in der Fülle, in der nichts und niemand differenzierter herausgearbeitet wird.

Mit dem formelhaften "Monsters" und dem verstaubten russischen Animationsfilm "The Ugly Duckling" ließe sich die Liste wenig Piazza-tauglicher Filme mühelos fortsetzen, sodass man sich in diesem Programmsegment wehmütig an die Zeiten erinnert als Kritikerhits und Preisträger von anderen Festivals über die Locarneser Großleinwand flimmerten. Schwer zu beurteilen ist, ob heuer einfach keine attraktiveren Piazza-Filme verfügbar waren, Änderungen wie eventuell auch die stärkere Programmierung von Filmen aus der Retrospektive oder von Trägern der Ehrenpreise wie heuer von Alain Tanner oder dem Produzenten Menahem Golan ("Love Streams", "Runaway Train") könnten aber vielleicht einmal angedacht werden.