Locarno 2009: Verlorene und zerrissene Jugendliche

Wie ein Leitthema zieht sich durch die Wettbewerbsfilme des 62. Filmfestivals von Locarno die Verlorenheit und Zerrissenheit von Jugendlichen. Der Brasilianer Esmir Filhó fokussiert in "Os famosos e os duendes da morte" ebenso darauf wie der Franzose Laurent Perreau in "L’insurgée – Restless" und in Randgeschichten kommt dieses Thema auch bei Bernard Émonds "La donation" vor.

Der Japaner Masahiro Kobayashi scheint mit "Wakaranai – Where are you?" das Leitthema des Festivals vorgegeben zu haben. Denn wie dieser Film so kreisen bisher mehrere Wettbewerbsfilme, unabhängig von welchem Kontinent sie kommen, um die Verloren- und Orientierungslosigkeit von Jugendlichen.

Unbefriedigend bruchstückhaft bleibt die Geschichte, die der Brasilianer Esmir Filhó in seinem Debüt "Os famosos e os duendes da morte – The Famous and the Dead" erzählt, im Mittelpunkt steht vielmehr die Evokation der Befindlichkeit eines isolierten Jugendlichen. Mal hängt dieser Bob Dylan-Fan, der sich im Internet Mr. Tambourine nennt, mit seiner Mutter vor dem Fernseher, mal schreibt er in der Schule einen Test, mal raucht er mit seinem Freund einen Joint, meist sitzt er aber allein vor dem Computer. Wie für ihn vermischen sich so auch für den Zuschauer Realität, virtuelle Welt und Imagination zunehmend.

Verbunden mit der Musik schafft Filhó damit eindringlich eine zutiefst melancholische, von Todessehnsucht durchdrungene Stimmung, die das Empfinden und die Suizidgedanken des Jugendlichen eindringlich vermitteln. So überzeugend das aber auf der atmosphärischen Ebene auch sein mag, so wenig befriedigt die Beschränkung darauf, denn weder werden irgendwelche Gründe für die hohe Selbstmordrate in dieser Kleinstadt geliefert, noch irgendwie verständlich, in welchem Zusammenhang mit der Handlung die Deutschstämmigkeit der Grosseltern sowie ein deutschsprachiges Volksfest mit Lederhosenträgern und Schuhplattlern steht. Denn bei Mutter, Freunden und in der Schule spielt diese traditionelle Community überhaupt keine Rolle, sodass dieses Moment einzig zu – gezielter (?) - Irritation führt.

Nicht so kryptisch, in seiner Zerfahrenheit aber auch nicht gelungen ist Laurent Perreaus Erstling "L"insurgée - Restless". Die fragmentarische und sprunghafte Erzählweise mag zwar durchaus mit der Zerrissenheit der 16-jährigen Claire korrespondieren, deren Rastlosigkeit auch eine unruhige Handkamera immer wieder zum Ausdruck bringt. Aber im Springen von Schwimmtraining, zu einer labilen Beziehung zu einem jungen Casinoangestellten und andererseits wieder zum Landhaus des Opas, bei dem der Teenager zwar wohnt, den Kontakt aber auf ein Minimum zu beschränken versucht, verliert "L’ insurgée" sein emotionales und dramaturgisches Zentrum.

Aufgesetzt – und im Grunde ein Vehikel für Michel Piccoli – wirkt auch die Figur des Großvaters, die ein Gegenpol zum Teenager sein soll. Wenn Perreau hier auch noch dessen Resistanceerfahrungen ins Spiel bringt, die den alten Mann immer noch belasten, und so den Problemen der Jugend auch Sorgen der Alten gegenübergestellt werden, dann wirkt das doch so absichtsvoll konstruiert, dass der Film emotional überhaupt nicht mehr wirkt.

In zwei Randgeschichten geht es auch in "La donation", mit dem der Kanadier Bernard Émond seine Trilogie über die göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe abschließt, um die schwierige Situation von Kindern und Jugendlichen. Nach der Auseinandersetzung mit dem Glauben in "La Neuvaine" und der Hoffnung in "Contre toute espérance" geht es in "La donation" um die Nächstenliebe.

Eine Ärztin (eine der Protagonistinnen von "La Neuvaine") nimmt in einem abgelegenen, und unter Arbeitslosigkeit leidenden ostkanadischen Provinznest eine Stelle als Vertreterin des alten Arztes an, wobei auch dessen Nachfolge in Aussicht gestellt wird. In Hausbesuchen, Krankenhausdienst, aber auch in der Praxis wird sie immer wieder mit Fragen von Leben und Tod und damit auch dem Sinn des Lebens konfrontiert und der Dienst am nächsten als zentral herausgearbeitet.

Das ist einfach, aber vor allem am Beginn mit großer Prägnanz und Knappheit erzählt. Mit Fortdauer verliert der Film trotz der Ernsthaftigkeit und Konzentriertheit der Erzählweise aber etwas an Eindringlichkeit, da einerseits die Ärztin als Figur blass bleibt, andererseits das Plädoyer für Nächstenliebe in viele Krankenschicksale aufgefächtert, dabei aber nur redundant ausgebreitet und nicht weiterentwickelt wird. Da dabei alles klar zu Tage liegt, dehnt auch das Schwelgen in langen Totalen der endlos weiten herbstlichen Landschaft, mit denen Émond Pausen in der schon in getragenem Rhythmus entwickelten Handlung setzt, auf die Dauer den Film allzu sehr. Trotz dieser Schwächen muss man dem kanadischen Regisseur aber zugute halten, dass er etwas zu sagen hat und er sein Thema auch in einer runden und überzeugenden Geschichte plastisch und filmisch ansprechend herauszuarbeiten versteht.