Liu Xiaodong. Prozess Malen

Der Maler Liu Xiaodong gehört zu den international prominentesten Vertretern einer Generation von chinesischen Kunstschaffenden, die in einer neuen Gesellschaft groß geworden sind, in der sich die Perspektiven bis heute rasch und oft veränderten. Diese Künstler/innen waren gezwungen, sich vom Idealismus und Heroismus der Generation vor ihnen abzukehren, ihn wenigstens umzudeuten. Nicht mehr der Verherrlichung des Systems oder umgekehrt der waghalsigen Widerständigkeit den staatlichen Mächten gegenüber gilt ihr Bemühen, sondern es bestimmt sie die Orientierung innerhalb einer intensiv empfundenen Machtlosigkeit.

Liu Xiaodong wurde in klassischer Ölmalerei ausgebildet und hat formal die Maltradition, die aus dem Sozialistischen Realismus hervorgegangen ist, nicht verlassen. Wohl aber hat er die Inhalte drastisch geändert und gibt nun dem alltäglichen Leben vor dem Hintergrund grundlegender Wandlungen eine Stimme. Erdbeben, landschaftliche Veränderungen und vom Menschen ausgelöste ökologische Katastrophen sowie gesellschaftliche Ausformungen aufgrund des ökonomischen Wandels hält Liu Xiaodong malerisch fest. China ist weltweit synonym geworden für derartige weitreichende Bewegungen und Umwälzungen. Der Dreischluchtenstaudamm am Yangtsekiang ist nur eines der vielen Beispiele dafür, wie sich die Lebenssituation der betroffenen Menschen völlig neu darstellt und sich existenzielle Veränderungsvorgänge in kurzer Zeit ergeben.

Liu begegnet den Entwicklungen, indem er die entsprechenden Orte aufsucht, sich mit einem Team von Helfern und Kameraleuten vor Ort installiert und die Signifikanz der Geschehnisse visuell zu erfassen versucht. Malerei wird dabei gleichzeitig zum Dokumentations- und Interpretationsmedium. Das Prozesshafte und Dramatische der Malerei wird durch die Methode der Multimedialität unterstrichen. Die Malerei thematisiert die Entscheidung des einzigen festgelegten Ausschnitts, während der Film Vorgänge festhalten kann. Beides ist dazu angetan, sowohl narrative Abläufe als auch objektive Dokumentationen zu ermöglichen. "Hometown Boy" schildert zum Beispiel die Entwicklung seines eigenen Heimatortes Jincheng, der von der Papierindustrie geprägt ist – eine Kleinstadt in Chinas nordöstlicher Provinz Liaoning. Das Alltagsleben, die Einzelschicksale und die Entfremdung der Menschen im Kontext sozialer Prozesse – all das hielt Liu über einen Zeitraum von zwei Monaten fest. Dabei entstanden großformatige Gemälde, tagebuchartige Foto- und Skizzentableaux sowie ein Film, bei dem Hou Hsiao-Hsien – einer der prominentesten Filmemacher aus Taiwan – Regie führte.

Für die Ausstellung im Kunsthaus Graz hat der Künstler Eisenerz in der Obersteiermark als Ort für sein neuestes Projekt gewählt. Verblüffend ähnlich ist die Situation der Jahrhunderte alten Industrie- und Kulturlandschaft mit den chinesischen Verhältnissen. Eisenerz, das einem enormen Veränderungsprozess ausgesetzt ist, wird plötzlich zum globalen Modell. Die Rückentwicklung durch Strukturwandel und der damit einhergehende soziale Wandel haben deutlich sichtbare Problemfelder erzeugt, deren Bewältigungsversuche viele Gesichter haben. Als Maler begegnet Liu den Ereignissen und der historischen Entwicklung nicht auf kämpferische Art, sondern als Dokumentarist. In der Malereigeschichte wurde Eisenerz als mächtiger identitätsstiftender Ort vielfach Gegenstand der Kunst. Meist idealisierend zeigte man die Erfolgsgeschichte des Ortes bzw. seines Umlandes und mystifizierte den Erzberg als lebensspendende Grundlage menschlicher Existenz.

Liu Xiaodong wird auch in Eisenerz mit einem Team aus Helfern und Kameraleuten einen Monat lang vor Ort leben und arbeiten. Seine künstlerische Praxis ist in diesem Moment nicht mehr ein ausschließlich aus dem chinesischen Kontext heraus zu verstehendes Phänomen. Vielmehr erlangt er dabei Allgemeingültigkeit. Als Maler hat er nicht die Illusion, Missstände direkt zum Besseren wenden zu können. Aber er versucht, wie viele andere Maler auch, die Massivität der Themen und Probleme in der Malerei zu bewältigen.

Seine Herkunft aus einer der traditionellsten Sparten der Malerei – dem Sozialistischen Realismus – bekommt plötzlich eine völlig andere Bedeutung: Politische Programmbilder jeder Art haben ihre Aussagekraft verloren, gesellschaftliche Utopien scheinen keinen dauerhaften Bestand mehr zu haben. Es ist das Ende der Utopien einer Welterneuerung, die durch Reformen und Revolutionen herbeigeführt werden kann. Die Vernetzung unterschiedlichster, oft auch widersprüchlicher ideologischer Ansätze lassen den Feind immer schwerer fassbar werden. Von der Machtlosigkeit des Malers angesichts der immer schneller und in der Wirkung mächtiger werdenden Entwicklungen ausgehend, versucht Liu Xiaodong den Übergang von einer Gesellschaftsform in die andere durch Bilder zum Ausdruck zu bringen, wobei er an die gerade heute vielzitierte Macht der Bilder appelliert.

Liu Xiaodongs Projekt "Prozess Malen" ist sowohl formal als auch inhaltlich ein Weg, den Malerei gegenwärtig beschreiten kann, ohne dabei die Relevanz einzubüßen, die man ihr gerade heute gerne abspricht.
Günther Holler-Schuster

Prozess Malen
6. Juni bis 2. September 2012