Lia Rodrigues verzaubert das Publikum bei den Wiener Festwochen

Die Wiener Festwochen öffneten heuer von Mai bis Juni 22 wieder uneingeschränkt den künstlerischen Raum für Neues, für die Erkundung von unbekanntem Terrain. Wieder geht das Festivalprogramm nicht von speziellen Disziplinen aus, sondern es soll ein Verschränken künstlerischer Ausdrucksformen sein. “Lassen wir uns vom Noch-nicht-formulierten überraschen!“ postuliert der Leiter Christophe Slagmylder.

Encantado bedeutet verzaubern. Und genau das passierte im Odeon durch das energiegeladene Tanzstück der brasilianischen Choreografin Lia Rodriges mit ihrer Companhia de Danças – bei der letzten Vorstellung allerdings mit Einschränkungen. Erwartungsfroh blickte das Publikum auf die große Teppichrolle, hatte man ja schon im Vorfeld mitgekriegt, dass sich das ganze Stück faszinierend aus dem bodenfüllenden Flickwerk entfalten würde. Es trat jedoch die Choreografin mit den TänzerInnen in Trainingskleidung auf und verkündete, dass ein Mitglied der Gruppe verletzt sei und das Stück nur in Teilen – mit Erläuterungen – aufgeführt werden kann. Enttäuscht ertappte man sich beim Abzählen und der mangelnden Einsicht, dass der Elfte den gravierenden Unterschied ausmachen solle ... eine Herausforderung der ZuschauerInnen.

Lia Rodriges setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und begann zu erzählen: Encantando sei in den dunklen Coronazeiten entstanden, in ihrem Tanzzentrum in der Favela de Maré (Rio de Janeiro). "Der kreative Prozess gestaltete sich grundlegend anders, da wir neben den wöchentlichen Tests auch Abstands- und Maskenvorschriften einhalten mussten. Und wir waren alle sehr besorgt über die große Gesundheitskrise, die Brasilien wegen Covid-19 durchmachte.“

Die drei Teile der Produktion spiegeln die verschiedenen Phasen der Pandemie wieder. Da im ersten Teil die TänzerInnen getrennt und ohne Kontakt zueinander agieren, konnten dreißig Minuten im Original gezeigt werden. Es wurde wirklich ein bühnenfüllender, bunter Patchwork-Teppich ausgerollt. Nackte Menschen traten ein und der gemusterte Boden löste sich in Decken auf – die Decken der Wohnungslosen von Rios Straßen – in Metamorphose von Bewegung und dadurch entstehenden erstaunlichen Wesen. "Ich lasse meine TänzerInnen an meinen Intuitionen teilhaben, aber ich folge nie einer klaren Linie. Alles ist da, alles schwebt um uns herum, in uns, und gemeinsam suchen wir nach Wegen, Dinge zu sehen, die nichts miteinander zu tun haben, um eine Stickerei daraus anzufertigen, die dann irgendwann zum Stück wird.“

Im zweiten Teil würden sich die KünstlerInnen in Duos, Trios und Quartetten begegnen, in Dialog treten, und das Publikum beginnt zu verstehen, dass dieses fein durchchoreografierte Gewebe nur im Gesamten zur Vollendung gelangt. Das furiose Finale im exaltierten gemeinsamen Tanz mit wildem Stapeln aller Decken auf den einzelnen Körpern wurde allerdings wieder dargeboten und tief beeindruckt und mit weitreichenden Erkenntnissen – verzaubert – zogen die Schaulustigen von dannen, betroffen von der eigenen Kulturkonsumhaltung. Die Intuition der Choreografin hallt nach: "Wie können wir unsere Ängste verzaubern und uns in Gemeinschaft zusammenschließen, uns nah aneinanderstellen? Wie können wir unsere Ideen und unsere Körper verzaubern, indem wir sie in Bilder, Tänze und Landschaften verwandeln? Verwandlungen beginnen in den Träumen. Wie verwandelt ihr also eure Träume in etwas Wirkliches? Wir wollten eine Verzauberung wie durch Magie herbeiführen.“