Lebenslügen und unbändige Liebessehnsucht

Der Amerikaner John Cassavetes gilt vielen als Begründer und Ikone des Independent-Films. Mit den Regeln des klassischen Hollywood-Kinos bricht er in seinen Filmen konsequent. Wichtiger als ein dramaturgischer Aufbau sind in seinen Alltagsgeschichten die einzelnen Szenen und die Wahrhaftigkeit der Schauspieler, aus denen er alles herausholt. Das Österreichische Filmmuseum in Wien zeigt derzeit eine Retrospektive der Werke dieses großen Außenseiters des amerikanischen Kinos.

Der am 9. Dezember 1929 in New York geborene Sohn griechischer Einwanderer absolvierte nach der Schule eine Schauspielausbildung, bei der er nach der Stanislawski-Methode unterrichtet wurde: Der Schauspieler soll dabei in der Rolle ganz aufgehen und persönlich erlebte Schicksalsschläge und Ähnliches in der Rolle verarbeiten. Diese Ausbildung hat Cassavetes entscheidend geprägt. Auch seine eigenen Filme sind Schauspielerfilme, in denen er von seinen Darstellern das Äußerste abverlangte und auch zehnminütige Einstellungen ein Dutzend Mal wiederholen ließ.

Nach dem Studienabschluss folgten Theatertourneen, zahlreiche Rollen in TV-Shows und –Serien, ehe er 1956 als Hauptdarsteller in Martin Ritts "Edge of the City" ("Ein Mann besiegt die Angst") einen beachtlichen Erfolg erzielte. Statt sich aber auf eine Karriere als Schauspieler zu konzentrieren, drehte Cassavetes mit minimalem Budget und einem improvisierten Skript seinen ersten eigenen Film. "Shadows" (1958/59), der sowohl inhaltlich als auch formal einen Verstoß gegen alle Konventionen des klassischen Hollywood-Kinos darstellt, gilt als Beginn des New American Cinema. Doch auch mit dieser Bewegung um Jonas Mekas und Kenneth Anger brach Cassavetes, da er sich für deren formale Experimente nicht interessierte.

Er blieb ein Solitär und ist auch nicht dem New Hollywood, dessen Vertreter ab Ende der 60er Jahre ihre ersten Filme drehten, zuzuordnen. Seine Versuche innerhalb des Studiosystems ("Too Late Blues", 1961; "A Child is Waiting", 1962) wurden zu frustrierenden künstlerischen und kommerziellen Misserfolgen. Cassavetes gründete eine eigene Produktionsfirma und verdiente sich als Darsteller das Geld für die Produktion seiner unabhängigen und persönlichen Filme. Große Rollen hatte er in dieser Zeit in Don Siegels "The Killers" (1964), Robert Aldrichs "The Dirty Dozen" (1966), und Roman Polanskis "Rosemaries Baby" (1967). Dies ermöglichte ihm nach vierjähriger Produktionszeit 1968 "Faces" zu drehen, mit dem er thematisch wie formal seinen unverwechselbaren Stil fand.

Isolation und Entfremdung in einer normierten Gesellschaft und das unbändige Verlangen nach Liebe sind seine zentralen Themen. Erzählt werden alltägliche Geschichten und die Protagonisten gehören dem Mittelstand an. Gespielt werden diese meistens von Cassavetes früheren Kollegen, Laien und Familienangehörigen – einer relativ konstanten "Film-Familie", zu der neben anderen Gena Rowlands, mit der Cassavetes von 1954 bis zu seinem Tod am 3. Februar 1989 verheiratet war, Peter Falk, Ben Gazzara und Seymour Cassel gehören. Oberstes Ziel seiner Inszenierung war Ehrlichkeit und das Bestreben die verborgenen Gefühle und Lebenslügen der Figuren zu vermitteln. Schonungslos und mit einem selten zu sehenden Mut zur Hässlichkeit legen hier die Schauspieler das Innenleben ihrer Figuren bloß. Der Einsatz einer bewegten Handkamera, der weitgehende Verzicht auf Kunstlicht, Originalschauplätze, unscharfe Bilder und unorthodoxe Schnitte kennzeichnen seine Filme und verleihen ihnen einen dokumentarischen Gestus und fiebrige Intensität.

In "Faces" schildert Cassavetes 36 Stunden im Leben eines Paares, dessen Ehe gescheitert ist, das sich aber dennoch nicht trennt. "Husbands" (1970) seziert das Leben einiger Ehemänner, die sich beim Begräbnis eines Freundes treffen und sich in einer alkoholreichen Nacht der Monotonie ihres Lebens bewusst werden. "A Woman under Influence" (1974) durchleuchtet eine amerikanische Durchschnittsfamilie und zeichnet furios das Psychogramm der psychisch labilen Ehefrau. Mit "The Killing of a Chinese Bookie" (1975) näherte sich Cassavetes zwar dem Genre des Gangsterfilms, doch im Mittelpunkt stehen auch hier das Psychogramm des bei der Mafia verschuldeten Nachtclubbesitzers und die Evokation der Einsamkeit. Ins Theatermilieu führt schließlich "Opening Night" (1977), in dem eine Schauspielerin während der Probenarbeit in eine Identitätskrise gerät. Nach dem Abstecher nach Hollywood mit dem Gangsterfilm "Gloria" (1980) finden sich in "Love Streams" (1984) noch einmal alle Themen, die das Werk dieses großen Einzelgängers prägen: In der Geschichte von zwei Geschwistern, die mit dem Leben nicht klar kommen und sich aneinander krallen, zeichnet Cassavetes ein letztes Mal intensive Psychogramme und zeigt eindringlich die Bedeutung von Liebe und Zärtlichkeit in einer Zeit der Kommunikationsunfähigkeit.