Kris Martin im Aargauer Kunsthaus

Das Aargauer Kunsthaus zeigt mit "Every Day of the Weak" die bisher umfassendste Einzelausstellung des 1972 geborenen, belgischen Künstlers Kris Martin in Europa. Die Schau vereint Martins zentrale Arbeiten der letzten Jahre und zeigt damit erstmals sein Schaffen in der ganzen Breite und Vielfältigkeit. Entstanden ist die Ausstellung in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bonn und der Kestnergesellschaft in Hannover.

Die grossformatige, ratternde Ankunfts- bzw. Abflugtafel "Mandi XXI" von Kris Martin bildete 2010 den Auftakt zur Jubiläumsausstellung "Yesterday Will Be Better" im Aargauer Kunsthaus. Die nun zu sehende erste Retrospektive des Künstlers verdeutlicht, dass das Thema der Zeit(-reise), des Vorübergleitens und der Endlichkeit in seinem gesamten Schaffen einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Seine vielfältige Kunst, die sich zwischen Installation, Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Schrift und Klang bewegt, vermittelt mitunter intensive Erfahrungen von Leben und Tod. Dies zeigt sich dann besonders deutlich, wenn Kris Martin ganz unmittelbar der eigenen Sterblichkeit nachspürt, indem er mit "Still Alive" seinen Schädel als Totenkopf reproduziert und damit seinen Tod antizipiert.

Er stellt die Frage nach der Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens in Bezug auf sich selbst und wendet sich zugleich immer an den Betrachter. Dass Leben und Tod, respektive Schönheit und Schrecken manchmal nah beieinander liegen, vergegenwärtigt auch eine Arbeit, die aus über 700 glänzenden Granathülsen besteht. Diese Fundstücke aus dem Ersten Weltkrieg wurden dereinst von Soldaten mit Blumenmotiven graviert und als Souvenirs aufbewahrt. Diese ursprünglichen Instrumente der Vernichtung häuft Kris Martin wie ein Schatz aus Gold auf.

Kris Martin befragt die kulturellen Bedingungen, die uns umgeben. Er bezieht sich dabei auf Literatur- und Kunstgeschichte und stellt durch die Einbettung christlicher Ikonografie nicht zuletzt auch Fragen nach den heutigen Möglichkeiten von Religion und Spiritualität. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür liefert sein Werk "For Whom", eine grosse Kirchenglocke, die - weil ihr der Klöppel fehlt - auch in Bewegung keinen Klang erzeugt. Der Anblick dieses schwingenden und dennoch stumm bleibenden, christlichen Symbols für Gemeinschaft irritiert und wirkt gleichzeitig befreiend. Trotz der symbolischen, wie auch melancholischen und romantischen Komponente sind Martins Werke frei von Pathos, jedoch oft von einem skeptischen Humor durchdrungen. Formale Vielgestaltigkeit und sinnliche, materielle Qualitäten seiner Objekte verbinden sich dabei mit konzeptueller Strenge, spielerische Eleganz mit puristisch kühler Konzentration.

Weniger Schöpfer denn Sammler und Sezierer, benutzt Kris Martin - nebst Objekten, die er aufwändig produzieren lässt - häufig Fundstücke, denen bereits eine Geschichte eingeschrieben ist. Als zentrale Arbeitsstrategie löst er sie nicht nur aus ihrem ursprünglichen Kontext, sondern entfernt mit Präzision und Originalität wesentliche Informationen. Er denkt die Dinge quer, überlagert sie, verschiebt sie in ihrer Dimension, so dass neue Lesarten entstehen. Der Betrachter wird irritiert und motiviert, die Leerstellen mit eigenen Erfahrungen zu füllen, das Fragment weiterzudenken und zu vervollständigen. Martins Werke führen die Fantasie des Betrachters über eine rational ausgedeutete, begrenzte Welt hinaus und sprechen ihn in der Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit seines eigenen Lebens an.

Kris Martin nimmt heute eine wichtige und eigenständige Position in der zeitgenössischen Kunst ein. Bekannt wurde er unter anderem durch seine Installation "Mandi III", die er 2006 auf der 4. Berlin Biennale gezeigt hat. 2007 folgte die Präsentation einer Auswahl an Werken im renommierten P.S.1 MoMA, New York. Die Ausstellung in Aarau, Bonn und Hannover umfasst neben der Vielzahl an wichtigen Werken auch einen umfangreichen und vom Künstler mitgestalteten Katalog.

Katalog: "Kris Martin, Every Day of the Weak." Hrsg. Volker Adolphs, Susanne Figner, Madeleine Schuppli. Mit Texten von Volker Adolphs, Madeleine Schuppli, Susanne Figner/Antonia Lotz DISTANZ Verlag, Berlin, ISBN 978-3-942405-67-6. CHF 40.- inkl. MwSt. Für Mitglieder oder Gönner des Aargauischen Kunstvereins CHF 35.–

Every Day of the Weak
12. Mai bis 12. August 2012