Körper, Psyche und Tabu

2016 wirft das Mumok einen frischen Blick auf einen seiner Sammlungsschwerpunkte, den Wiener Aktionismus, und setzt diesen in Bezug zu seinen nicht minder radikalen Vorläuferpositionen im eigenen Land. Zahlreiche österreichische Museen und Sammlungen unterstützen das Projekt mit großzügigen Leihgaben und ermöglichen die Zusammenkunft von KünstlerInnen der Jahrhundertwende mit den Wiener Aktionisten.

Die Spannbreite reicht von Inkunabeln der Jahrhundertwende aus dem benachbarten Leopold Museum über die großzügige Unterstützung mit Arbeiten aus der Albertina, dem Belvedere und dem Österreichischen Theatermuseum, dessen berühmte "Nuda Veritas" (1899) von Gustav Klimt zu sehen sein wird, bis hin zu bedeutenden Ergänzungen aus dem Wien Museum sowie dem an der Universität für angewandte Kunst Wien beheimateten Kokoschka-Archiv, der Sammlung Friedrichshof und weiteren Leihgaben aus österreichischem Privatbesitz.

Mit Körper, Psyche und Tabu als zentralen, titelgebenden Begriffen verdeutlicht die Präsentation ideengeschichtliche, inhaltliche und gestalterische Zusammenhänge zwischen dem Wiener Aktionismus und den künstlerischen Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Werken von Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler, den Skandalkünstlern der 1960er-Jahre, werden Arbeiten ihrer ebenfalls umstrittenen Kollegen vom Jahrhundertanfang – von Gustav Klimt über Richard Gerstl und Oskar Kokoschka bis zu Koloman Moser, Max Oppenheimer und Egon Schiele – gegenübergestellt.

Wie im Wien der frühen Moderne kennzeichnet auch in der Zeit um 1960 eine revolutionäre Aufbruchsstimmung sowohl das gesellschaftliche wie auch das kulturelle und künstlerische Leben. Darstellungskonventionen und Kunstgattungen wurden neu bestimmt, der Glaube an die Mit- und Umgestaltung der Gesellschaft durch Kunst beflügelte die Utopien und radikalen Provokationen gegen traditionelle Ordnungen. Nicht zufällig nahmen sich die Protagonisten des Wiener Aktionismus die Traditionsstürmer der Zeit nach 1900 mit deren radikalen Körperbezügen und Tabubrüchen wie auch mit deren interdisziplinären und synergetischen Kunstformen zum Vorbild ihrer eigenen Kunst. Und wie schon den VertreterInnen der Wiener Moderne gelang es auch den Wiener Aktionisten gerade durch ihre engagierte Haltung, eine weit über den lokalen Rahmen ausstrahlende Bedeutung zu erlangen. Die einen wie die anderen lieferten mit ihren Arbeiten Beiträge zur internationalen Kunstgeschichte, deren Relevanz gerade heute, in Zeiten eines neuen Blicks auf die Errungenschaften und geistigen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, mehr und mehr erkannt wird.

Neben zahlreichen motivisch-stilistischen Verwandtschaften verweist die Mumok-Ausstellung vor allem auf inhaltliche Parallelen. Sowohl zu Jahrhundertbeginn als auch in den 1960er-Jahren wird der menschliche Körper als Spiegel und Widerpartxexistenzieller und gesellschaftlicher Erfahrungen thematisiert. Das psychologische Porträt, aber auch der exponierte Körper und dessen Erfahrungen von Schmerz durchziehen die Werke beider Generationen. Selbstdarstellungen als Märtyrer_innen sind in diesem Zusammenhang keine Seltenheit und verweisen auf Konzepte vom Künstler als Priester und Erlöser der Gesellschaft. Beengende Grenzen wurden geöffnet und Wege zu einem interdisziplinären Kunstverständnis geebnet. Dieses bezieht nicht nur fotografische (und später filmische), theatrale, literarische und musikalische Kunstformen mit ein und verknüpft diese oftmals miteinander: Mit der Psychoanalyse und sprachkritischen Ansätzen werden auch die Potenziale avancierter Wissenschaften in die künstlerische Arbeit einbezogen.


Körper, Psyche und Tabu
Wiener Aktionismus und die frühe Wiener Moderne
4. März bis 16. Mai 2016