Kleine Reise durch die Welt der Filmfestivals

9. Mai 2011 Walter Gasperi
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Die Festivals von Cannes, Venedig, Berlin kennt jeder, doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wie Pilze schossen Filmfestivals in den letzten 20 Jahren aus dem Boden, allein für die Mitgliedsstaaten der EU geht die European Coordination of Film Festivals von 800 Veranstaltungen dieser Art aus. Doch nicht nur in Größe und Renommee, sondern auch hinsichtlich der Ausrichtung unterscheiden sich die Festivals deutlich.

Venedig genießt den Ruf das älteste Festival zu sein. 1932 fand erstmals am Lido die "Mostra internazionale del cinema" statt – und wurde auch gleich von Mussolini für seine politischen Interessen instrumentalisiert: Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" wurde hier 1934 mit einer Goldmedaille ausgezeichnet, der antisemitische "Jud Süß" feierte in der Lagunenstadt am 5. September 1940 seine glanzvolle Premiere.

Wenn der Westen etwas vorlegte, musste der Osten damals rasch nachziehen. 1935 wurde das Filmfestival Moskau aus der Taufe gehoben und war, zwischen 1958 und 1992 im Zweijahresrhythmus alternierend mit dem Festival in Karlovy Vary/Karlsbad, die wichtigste Plattform des osteuropäischen Films. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben aber sowohl Moskau als auch Karlsbad sichtlich an Bedeutung eingebüßt.

Ein Boom an Festivalgründungen setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Großer Nachholbedarf an Filmen aus Übersee bestand zu dieser Zeit in Europa und Cannes konnte 1946 mit einem fulminanten Programm starten. Immer noch versucht man an der Côte d´Azur einen Mix aus großem Kunstkino und Kommerz zu bieten, holt die neuesten Filme der aktuellen Starregisseure und programmiert dazwischen auch die Uraufführung des einen oder anderen amerikanischen Blockbusters.

Kein anderes Festival kann damit mithalten, auch nicht die Berlinale, die in Zeiten des Kalten Krieges als Drehscheibe zwischen Ost und West galt, politisches Kino forcierte und damit teilweise Eklats provozierte – wie 1979 als die Einladung von Michael Ciminos Vietnamfilm "The Deer Hunter – Die durch die Hölle gehen" zum Boykott mehrerer osteuropäischer Länder führte. Mit dem Zerfall des Ostblocks hat die Berlinale aber diese Funktion eines Brückenpostens verloren – und ein neues Profil noch kaum gefunden. Rarer sind auch die großen amerikanischen Filme geworden, seit die Oscar-Nominierungen nicht mehr während, sondern schon vor der Berlinale bekannt gegeben werden. Zurückgreifen muss man so an der Spree eher auf noch unbekannte Regisseure oder solche, die sich schon auf dem absteigenden Ast befinden.

Weniger die Konkurrenz von Cannes als vielmehr die von Toronto bekommt das Festival von Venedig in den letzten Jahren zu spüren. Denn das 1976 gegründete kanadische Festival hat dem etwa gleich alten Montreal längst den Rang abgelaufen und sich zum wichtigsten Festival Nordamerikas entwickelt. So reißen sich die beiden Ende August/Anfang September stattfindenden Festivals von Venedig und Toronto um die großen Namen. Viel Neues bleibt dem nur wenige Wochen später folgenden San Sebastian nicht, sodass vielfach Filme von Toronto übernommen werden, die im Baskenland dann ihre Europapremiere feiern.

In diesem Konzert der Großen kann das mitten im Sommer stattfindende Festival von Locarno nicht mitspielen und nannte sich schon vor Jahren "das kleinste unter den großen" oder auch "das größte unter den kleinen". Große Namen will man da gar nicht im Wettbewerb, konzentriert sich gleich auf erste und zweite Spielfilme oder auch auf Regisseure, die erst noch entdeckt werden wollen. Manchmal kann der Tessiner Veranstaltung aber sogar da noch das zeitlich nahe Venedig in die Quere kommen, wie das Beispiel von Andrei Zvyagintsevs "The Return" zeigt. 2003 war dieses Vater-Sohn-Drama schon fix im Programm von Locarno, wanderte dann aber doch noch nach Venedig – und gewann dort prompt den "Goldenen Löwen".

Vom Programm her ähnlich ausgerichtet wie Locarno ist das Filmfestival von Rotterdam, das alljährlich im Januar stattfindet und sich zu einer wichtigen Veranstaltung für junge Regisseure und neue Strömungen im Weltkino entwickelt hat.

Richten diese Festivals ihren Blick aufs Weltkino, so fokussieren viele andere auf einzelne Regionen oder Themen. Das von Robert Redford initiierte Sundance Film Festival ist die zentrale Leistungsschau des unabhängigen nordamerikanischen Films, das Filmfestival in der kubanischen Hauptstadt Havanna bietet alljährlich im Dezember einen Überblick über das aktuelle lateinamerikanische Filmschaffen. Im südkoreanischen Busan kann man sich beim Pusan International Film Festival umfassend über das asiatische Filmschaffen und in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, über das afrikanische Filmschaffen informieren.

Daneben gibt es weltweit kleinere Veranstaltungen wie die nationalen Filmschauen für Österreich (Diagonale in Graz, jeweils im März), die Schweiz (Solothurner Filmtage, jeweils Ende Januar) oder Deutschland (Hofer Filmtage, Ende Oktober), Festivals mit inhaltlichen (Kinderfilme, Queerfilme, Umweltfilme, deutschsprachige Nachwuchsfilme beim Max Ophüls-Festival in Saarbrücken) oder geographischen Schwerpunkten (Osteuropäischer Film beim Go East in Wiesbaden, junger europäischer Autorenfilm beim Crossing Europe in Linz, Skandinavisches Kino bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck, Filme aus den Ländern des Südens in Fribourg, Stummfilme beim Stummfilmfestival in Pordenone/Italien).

Und daneben gibt es noch – für BesucherInnen besonders attraktiv – die Festivals, die auf einen Wettbewerb verzichten, sich aber die Rosinen von anderen Festival herauspicken. Die Wiener Viennale (Ende Oktober) und das Münchner Filmfest (Ende Juni) haben sich in dieser Beziehung in den letzten Jahrzehnten einen Namen gemacht.

Gemeinsam ist aber fast allen Festivals, dass sie im Gegensatz zu den Kinos kaum unter Besuchermangel klagen können. Filme, die im regulären Kinoprogramm kaum Besucher finden würden, werden hier gestürmt – und geduldig lässt man vieles über sich ergehen, um das man sonst einen großen Bogen machen würde. Aber vermehrt sind die Festivals auch die einzigen Orte, an denen man kleine unabhängige und sperrige Filme noch sehen kann, denn immer weniger finden unkonventionelle Filme Verleiher. Auch Preise bei großen Festivals sind keinesfalls mehr ein Garant, dass diese Filme dann auch in die nationalen Kinos finden.