Killerkommandos und Erlösungssehnsucht

8. Juni 2007
Bildteil

Zwei brasilianische Filme setzen beim 16. Internationalen Film Festival von Innsbruck Akzente: Während José Araújo in »As tentacoes do Iramao Sebastiao« in einem barocken Bilderrausch von der Erlösungssehnsucht in einer postapokalyptischen Welt erzählt, spürt Kiko Goifman im Dokumentarfilm »Atos dos homens« einem realen Massaker nach.

Zunächst zeichnet Kiko Goifman in »Atos dos homens« ein ganz alltägliches Bild der bei Rio de Janeiro gelegenen Siedlung Baixada Fluminese, lässt einen Prediger, einen Militärpolizisten und Menschen auf der Straße zu Wort kommen. Doch dann führt er in einer langen Liste in grauer Schrift auf weißem Grund 29 Namen auf –die Namen derer, die am 31. März 2005 von einer Todesschwadron getötet wurden.

Auf einen Kommentar verzichtet Goifman ebenso wie auf Bilder des Grauens. Er lässt die Betroffenen berichten, ist einerseits hautnah an ihnen dran, zeigt andererseits manchmal nicht einmal ihre Gesichter, sondern unterlegt ihre Aussagen mit Weißfilm. So wird konkret ein Ereignis und der soziale Hintergrund skizziert, aber auch ganz allgemein die Frage nach dem menschlichen Verhalten, nach den »Taten der Menschen« – so die Übersetzung des Originaltitels – aufgeworfen.

Technisch mag das alles andere als perfekt sein, aber gerade durch die unscharfen Videobilder entwickelt »Atos dos homens« eine Rohheit, die diesen Dokumentarfilm, wie aus dem Augenblick gedreht erscheinen lässt, und ihm eine Unmittelbarkeit und Echtheit verleihen, die packen.

Von der Gewalt in den brasilianischen Städten erzählt auch José Araújo in »As tentacoes do Irmao Sebastiao«. Er siedelt seinen Spielfilm aber im Jahr 2030 an und zeichnet eine postapokalyptische Welt, die an Alfonso Cuarons »Children of Men« erinnert: Die Städte sind verfallen, im Hintergrund ist immer wieder Maschinengewehrfeuer zu hören. In dieser desolaten Situation gewinnen religiöse Bewegungen, die Erlösung versprechen, an Einfluss. Wie im von der Pest gequälten Mittelalter ziehen Geisslerzüge durch die Stadt und predigen Umkehr. Schuldgefühle wegen seiner sexuellen Begierden quälen auch den jungen Sebastian, der in eine Kongregation eintritt, die christliche Motive mit der brasilianischen Mythologie verschmilzt. Wie der Heilige Sebastian will der Novize für seine fleischlichen Lüste büssen und reagiert auf Verführungsversuche des Teufels mit Selbstgeisselungen.

Großen Sog entwickelt Araújos Film am Beginn, evoziert eindrucksvoll die Düsternis der Welt und die Erlösungssehnsucht der Menschen. Reich an Bezügen zur christlichen, aber auch zur brasilianischen Ikonographie und in Bildgestaltung, Farb- und Lichtführung an den Gemälden von Meistern wie Caravaggio orientiert, entfaltet der Brasilianer einen barocken Bilderrausch, doch die Geschichte entwickelt er kaum weiter. Die am Beginn verstörenden und beunruhigenden Auftritte des Teufels verlieren mit den Wiederholungen ebenso an Wirkung wie die Exzesse von Blut, Sperma und Spucke. Auch verharrt Araújo in der neutralen Beobachterposition und involviert den Zuschauer kaum ins Geschehen. Diese Distanzierung und die vielfache Repetierung ähnlicher sexueller Versuchungen machen aber – vielleicht auch durchaus gezielt – bei einer Länge von 150 Minuten »As tentacoes do Irmao Sebastiao« auch für den Zuschauer zu einem Martyrium und lassen diesen im Kinosessel förmlich die Qualen der Hauptfigur nachfühlen.