Im Falle von besonders unangenehmen Gästen wurde auf den Karteikarten des Grand Hotels Waldhaus in Vulpera mitunter vermerkt: "Keine Ostergrüsse mehr!" Zwar ertrugen Concierge und Rezeptionist das ungehobelte Benehmen der illustren und zahlungskräftigen Gäste stoisch, notierten jedoch ihre Erfahrungen auf den Karteikarten. Gäste wurden diskret beobachtet, Telefonate belauscht, passendes und unpassendes Verhalten kommentiert.
In der Zwischenkriegszeit und vor allem während des Zweiten Weltkrieges war das Waldhaus in Vulpera ein Ort, an dem die Verwerfungen einer auseinanderfallenden Gesellschaft spürbar wurden. Was mag man wohl an der Rezeption besprochen haben, als 1932 Gäste reihenweise wegen der Bankkrise abreisen mussten, als 1939 die an jüdische Gäste verschickten Ostergrüsse mit den Vermerken "retour", "abgereist" oder "verzogen" zurückkamen. Wie veränderte sich der Ton der Angestellten gegenüber jüdischen Gästen? Wie begegnete man den hochrangigen Nationalsozialisten? Wie den jüdischen Gästen, die den Holocaust überlebt hatten und nach dem Krieg wiederkamen? Das Waldhaus brannte 1989 aufgrund einer bis heute ungeklärten Brandstiftung ab. Gerettet werden konnte u.a. die Gästekartei mit 20.000 Karten. Diese seltene Quelle erlaubt nicht nur einen Blick auf die Gäste, sondern auch auf die Perspektive jener, die die Karteikarten geführt hatten.
Der Fotograf und Künstler Lois Hechenblaikner konnte Rolf Zollinger, den letzten Direktor des Waldhauses, davon überzeugen, diese schrägen Karteikarten, die man vielleicht auch als Beginn des modernen CRMs (Customer Relationship Management) bezeichnen könnte, als Buch herauszugeben. Gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin Andrea Kühbacher rekonstruierte man anhand dieses kulturhistorischen Schatzes die Atmosphäre des Grandhotels. Kühbacher verfasste die einführenden Texte und recherchierte die biographischen Daten zu den Gästen und zum thematischen Umfeld, wobei es ihr auch gelang, die geheimen Codes "Tiroler" und "P" zu entschlüsseln.
Bis auf die Mauern abgebrannt
Das Grandhotel Waldhaus in Vulpera in der Nähe von Scuol – die Namensgleichheit mit der Hotelschwester in Sils Maria ist ein Zufall – brannte 1989 bis auf die Grundmauern nieder. Was zunächst vermutet wurde, wurde im nachhinein bestätigt. Es war Brandstiftung. Wo einst das gut einhundertjährige Hotel stand, befindet sich heute ein Kurpark, nichts blieb von der einstmaligen ersten Adresse des Bädertourismus, dem "Karlsbad der Alpen", übrig.
Mit Ausnahme von 20.000 Gästekarteikarten, die Rolf Zollinger, der letzte Direktor des Hotels, retten konnte. Sie dokumentieren die internationale Kundschaft aus Adel, Großindustrie, Finanz, Kunst und Politik, auch der nationalsozialistischen. Eine wahre sozialhistorische Fundgrube.
Die vom Empfangschef mit Schreibmaschine, zuweilen auch von Hand geschriebenen Karten für den internen Gebrauch vermerkten neben An- und Abreisedaten, Zimmerpreisen etc. auch die Vorlieben, Marotten und Finanzkraft der Gäste. Neben einigen Nettigkeiten ("Glanzgast!", "sehr nette Leute") werden Gäste vornehmlich in die Pfanne gehauen. Denn sie können es den GastgeberInnen kaum recht machen: Die einen konsumieren zu viel ("Das Personal nennt sie ‹Martini›"), andere zu wenig. Manche gelten als geizig ("sehr billig"), ein anderer wiederum sei ein "grosser Protz". Viele Einträge lassen schmunzeln, man kann Verständnis aufbringen für den Ärger über schwierige Zeitgenossinnen und Zechpreller, liest die Notizen als Frustventil, vielleicht sogar als versteckten Klassenkampf.
Wer die im Frühjahr zu Werbezwecken in alle Welt verschickten Osterkarten erhalten soll, wurde ebenfalls genauestens festgehalten. Die Karten jener Gäste, die nicht ins Hotel zu passen schienen, wurden mit dem Vermerk "Kein Ostergruss" versehen.
Ab Mitte der 1920er-Jahre häuften sich Einträge wie "frecher Jude", "Stinkjude", "Schießt den Vogel aller Juden ab". Später dann staunt man in der Réception, dass viele der nach Deutschland und Österreich geschickten Osterkarten nicht mehr zugestellt werden konnten, man kommentiert es mit "parti", abgereist.
Nach dem Krieg ändert sich der Code, nun verwendet man auf den Karteikarten ein "P" für Palästina, wie Andrea Kühbacher herausfand. Ein einzelnes "P" qualifizierte die jüdischen Gäste als "vorzeigbar", die Skala reicht bis zu sieben "P", maximaler Abscheu.
Die im Band "Keine Ostergrüsse mehr!" öffentlich gemachte Kartensammlung beginnt 1921 und reicht bis in die 1950er Jahre. Sie belegt, dass im Hotel deutsche Minister, Unternehmer, Bankiers, NSDAP-Grössen und ihnen nahe stehende Schweizer Politiker tafelten. Namen wie Siemens, Flick, Bosch tauchen auf, oder auch Ernst Ferdinand Sauerbruch, legendärer Chirurg an der Charité, der 15 Prozent Rabatt erhielt, weil er das Waldhaus gelegentlich betuchten Patienten empfahl. "Hohes Tier im Dritten Reich. Badrutt hat ihn ins Palace gelotst", vermerkt die Karte über den Staatssekretär Erich Neumann, der offenbar nach St.Moritz abgeworben wurde, und schlussfolgert Jahre später: "1945. Das Tier wird wohl kleiner geworden sein."
Insgesamt offenbart in der Karteisammlung die oft gefeierte, faszinierende kleine Welt eines alpinen Grandhotels unvermittelt auch ihre hässliche Fratze. Der Antisemitismus erweist sich im weitgehend homogenen Mikrokosmos der begüterten, urbanen Grandhotelgäste als grobe Axt. Mit ihr wird diese von feinen Unterschieden durchzogene feine Gesellschaft plötzlich sehr unfein und willkürlich in zwei Gruppen gespalten: in jüdische und nichtjüdische Menschen.
Eine Auswahl der Hotelkarteikarten macht indes nur einen Teil dieses schönen und umsichtig edierten Buches aus, denn sie werden durch vorzügliche kulturwissenschaftliche und sozialhistorische Texte von Mitherausgeberin Andrea Kühbacher, Bettina Spoerri und Hans Heiss sowie ein Glossar kongenial erschlossen. Zudem steuerte Martin Suter eine Erzählung bei. Und beeindruckende Schwarzweiss-Fotografien sorgen zwischendurch immer wieder für visuelle Leckerbissen.
Keine Ostergrüsse mehr! - Die geheime Gästekartei des Grandhotel Waldhaus in Vulpera
Hrsg. v. Lois Hechenblaikner, Andrea Kübacher u. Rolf Zollinger
Edition Patrick Frey, Zürich, Erstveröffentlichung 2021
396 Seiten, zahlreiche Abbildungen
ISBN 978-3-907236-19-2, Preis ca. 57 CHF