Kaspar Hauser - Jeder für sich und Gott gegen alle

21. März 2019 Walter Gasperi
Bildteil

Der 1828 in Nürnberg aufgefundene Kaspar Hauser gehört zu den berühmtesten Findelkindern. Werner Herzog interessiert sich in seinem vielleicht geschlossensten und besten Film nicht für den kriminologischen Aspekt des Falles, sondern fokussiert auf dem Einwirken der Gesellschaft auf den Außenseiter. Das 1974 entstandene Meisterwerk ist bei StudioCanal auf DVD und Blu-ray erschienen.

Am Beginn stehen leicht unscharfe Bilder eines Flusses, auf dem ein Mann in einem Boot unterwegs ist, die Großaufnahme des Gesichts einer Frau, ein aus Froschperspektive aufgenommener Stadtturm. – Von der Handlung losgelöst sind diese Aufnahmen, die von Musik von einer zerkratzten Schallplatte begleitet werden. Sind es Traumbilder des Protagonisten?

Über das Schicksal von Kaspar Hauser informiert anschließend ein Insert, das seine jahrelange Isolation in einem Kellerloch zusammenfasst und dem Zuschauer mit wenigen Sätzen ein eindrückliches Bild von dessen bisherigem Leben vermittelt.

Kaum ein Wort wird gesprochen, wenn ein schwarz gekleideter Mann dieses Verlies betritt, die Hand Kaspars führt, um seinen Namen auf ein Blatt zu schreiben, und ihn schließlich ins Freie führt. Vom engen Raum führt der Film so in eine weite grüne deutsche Wald- und Wiesenlandschaft. Auch auf Musik verzichtet Werner Herzog hier, setzt sie insgesamt nur sehr reduziert, aber ausgesprochen pointiert ein.

Stehen und Gehen bringt der Mann Kaspar noch bei, stellt ihn dann mit Gebetsbuch in der einen und einem Brief in der anderen Hand auf einem Stadtplatz – gedreht wurde in Dinkelsbühl – ab. An die Stelle der Natur tritt damit die menschliche Zivilisation.

Ist Kaspar, der keine Ahnung von der Welt hat, zunächst das staunenswerte Objekt der Bevölkerung, so setzt bald der formende Zugriff durch die Gesellschaft ein. Im Gegensatz zu Francois Truffaut in "L´enfant sauvage" schildert Herzog diese Zivilisierung und Sozialisierung, das Erlernen der Sprache und von Tischsitten nicht positiv als Lernprozess, sondern vielmehr als Dressur, durch die Kaspar seine Identität zumindest teilweise verliert.

Bald wird das Findelkind von der Stadt auch an einen Zirkus verkauft, damit er nicht mehr die Kasse belastet, und dort als "Rätsel der Welt" zusammen mit anderen als deformiert geltenden Personen einem staunenden Publikum präsentiert. Kaspar flieht und wird vom reichen Bürger Daumer (Walter Ladengast) aufgenommen, der ihm nach einem Zeitsprung von zwei Jahren auch schon einiges beigebracht hat.

Die Kirche, die Fragen nach seinem Gottesbild im Kellerloch stellt, interessiert sich für ihn ebenso wie die Wissenschaft, die seine Intelligenz mit einer Frage prüfen will, auf die er mit Hausverstand viel klüger antwortet als der Professor. Ein englischer Lord möchte ihn sogar adoptieren, doch wie er bei einer Abendveranstaltung vorgeführt wird, missfällt Kaspar, sodass er sich gezielt daneben benimmt und bei Daumer und dessen Haushälterin (Brigitte Mira) bleiben muss oder kann.

Aber auch Feinde muss dieser Außenseiter haben, denn während ein erster Anschlag auf ihn noch misslingt, stirbt er nach einem zweiten – und wie zuvor als Lebender wird nun seine Leiche von den Wissenschaftlern genau untersucht und vom Stadtschreiber wird alles exakt protokolliert.

Trocken und distanziert ist das einerseits inszeniert, andererseits aber auch voll Mitgefühl für den vom Laien Bruno S., der selbst in Heimen aufgewachsen ist, bewegend gespielten Kaspar Hauser. Man spürt bei jedem Satz, den er mühsam aus sich herauspresst, und bei jedem Schritt, wie fremd ihm diese Welt ist und welch gewaltsamer und die Persönlichkeit zerstörender Akt diese Übernahme der gesellschaftlichen Regeln ist.

Bissig ist Herzogs Blick, der diesen Film der 1933 nach Frankreich emigrierten Filmhistorikerin Lotte Eisner widmete, vor allem auf die Honoratioren, deren Vorstellungen er ad absurdum führt. Die Pastoren und damit die Kirche bekommen dabei ebenso ihr Fett ab wie die Wissenschaft mit ihren Spitzfindigkeiten, vor allem aber die Bürokraten, vertreten durch den Stadtschreiber, der alles genau protokolliert.

Denn Herzog geht es um die Welt hinter dem Sichtbaren und konkret Fassbaren. Nicht die exakten Wissenschaften sind letztlich das Zentrale, sondern das Gefühl und das Instinktive, das Visionäre, für das die Gesellschaft schon längst jedes Gespür verloren hat. Zentral sind so im Film auch die Träume Kaspars vom Kaukasus oder der Sahara, die Klaus Wyborny mit Super 8-Film gedreht hat und die mit ihrer Unschärfe und wackelndem Bild für faszinierende, irrlichtern-magische Momente sorgen. In ihnen bricht dieser im Tempo meisterhaft kontrollierte und bestechend auf prägnante Szenen reduzierte Film, der atmosphärisch dicht mit Landschaften und Stadtkulisse, aber auch mit Sprache – Herzog verwendete teilweise Briefe, die bei Kaspar gefunden wurden - und Kostümen, die Atmosphäre der Zeit evoziert, aus seinem Realismus aus und schafft einen Gegenpol dazu.

Damit kann Herzog, den von "Aguirre, der Zorn Gottes" über "Fitzcarraldo" bis "Schrei aus Stein" immer wieder extreme Figuren und Regionen interessierten, aber auch im Deutschland des 19. Jahrhunderts seinen Themen treu bleiben und mit Kaspar Hauser einen Charakter schaffen, der seinen großen Visionären, die unbezwingbare Berge besteigen oder auch ein Schiff über einen Berg ziehen wollen, verwandt ist.

An Sprachversionen bietet die bei StudioCanal erschienene DVD und Blu-ray die deutsche Originalfassung. Die Extras umfassen eine Bildergalerie, den Trailer, Auszüge aus dem Drehbuch und vor allem einen sehr informativen Audiokommentar von Werner Herzog und Laurens Straub.