In Kärnten und auch anderswo in Europa

Was für Idee und interessantes Konzept: Erlesene Autorinnen und Autoren mit Kärnten-Bezug betreiben von klingenden Ortsnamen ausgehend erweiterte Heimatkunde auf europäische Orte und Landschaften, mit derselben Bezeichnung. Jede, jeder bekommt einen konkreten Ort in Kärnten zugeteilt, zu dem es einen bekannten Namenszwilling in der europäischen Weite gibt und lässt den eigenen Assoziationen, Reaktionen, Recherchen, Gefühlen, Bildern freien Lauf. Interessant, was es mit Malta, Straßburg, Türkei, Kanaren, Klein Venedig, Gallizien und Unterloibl, eingebettet in die Topographie des südlichsten Bundeslandes, auf sich hat.

Dass Elke Laznias berührende Erzählung für die Anthologie titelgebend wird, verwundert nicht: "Im Traum ist Kanaren eine Insel", im November, im Nebel, am Fuße des Lisnabergs, im Traum ist der Lisnaberg eine müde alte Hündin ("Canis kommt von Hund"), doch als Elke Laznias Annäherung an den Ort fertiggeschrieben war, begann der Krieg in Europa. Von ihrem Text "ist nur Zerbrochenes geblieben" und sie liest "die Scherben auf, diese Fragmente des Lebens, diese Bruchstücke einer Normalität, die Reste einer Wahrheit, die es nicht mehr gibt, in Wirklichkeit nie gegeben hat ...". Also schreibt sie vorneweg vier weitere Seiten "vom Verlust", fügt die "Traumfetzen" erneut zusammen, und dies so unglaublich ergreifend und nachhallend beeindruckend.

Maja Haderlap hat Klein Venedig gewählt – oder zugeteilt bekommen. Sie fragte sich beim ersten Besuch, wie so ein unscheinbares, zwischen Autobahn und Schnellstraße verlorenes Dörfchen zu solch schillerndem Namen gelangen konnte und schrieb fünf kleine Gedichte als "Traum eines Kleinvenedigers". Ähnlich ist es Anna Baar mit Gallizien ergangen, die befand, dass es dort nicht viel zu suchen oder finden gäbe, und sich an der Bushaltestelle in einer fiktiven Wartezeit den Ort ausdenkt. Bei der frischgebackenen Österreichischen Staatspreisträgerin darf man es auch etwas genauer nehmen, wenn sich Ratlosigkeit einstellt, weil nicht so recht ersichtlich, wo der Text eigentlich hin will. Doch vielleicht ist genau das beabsichtigt, denn sie lässt ja auch den heranrollenden Bus wieder abfahren ohne einzusteigen.

Sehr unterhaltsam löst Daniel Wisser die Aufgabe mit dem Initiationswort Türkei. Sein Ich-Erzähler besucht etwas widerwillig den Schulfreund im Ort Türkei und kommt vom selbst zurechtgezimmerten Bild des Anderen nicht los, bis ihm alles so unheimlich wird, dass er flüchtet, um bei einer späteren Begegnung mit einer Schulfreundin selbst zur suspekten Person zu werden. Äußerst witzig ist auch das gereimte Dramolett über "des Präsidenten und seiner Familie Reise nach Malta" von Antonio Fian: "Die Gattin seufzt. Die Kinder murren./Sie freuten sich aufs Mittelmeer./Auch der Katze leises Schnurren/endet nun. "Es ist nicht fair//dass ich nicht mitdarf auf die Reise,/und hier alleine bleiben soll,/dafür, so wahr ich Katze heiße",/denkt sie, "scheiß´ ich die Wohnung voll."" Ja, ja, es ist nun einmal das Malta in den Hohen Tauern, das Quartier bezieht die Familie in Gmünd – was für vergnügliche 56ig-strophige Urlaubsdrama-Schilderung!

Des Weitern gibt es noch die akribisch recherchierte Annäherung von Alois Hotschnig "Über die Grenze gehen. Unterloibl" und von Elena Messner "das Fleisch Europas und der Straßburger Speckhimmel" mit der Frage "wer ernährt Europa?" Verena Gotthardt wäre eigentlich auch Autorin (eine Kurzbiografie von den einzelnen Beitragenden fehlt leider im Buch), reflektiert jedoch mit einer spontangeschossenen Fotostory die einzelnen Orte in Kärnten, so wie sie davon beeindruckt wurde.

Ein schönes Lesebuch ist diese literarische Sammlung von Reaktionen auf Impulswörter geworden, die nur Namen von Orten und Landschaften sind, und doch so viel auslösen können: sowohl bei den Schreibenden, die in ihrer Eigenart ihr Bestes geben, als auch bei den Lesenden, in der Anreicherung der eigenen Assoziationen.

Kanaren im Nebel. Europäische Ansichten aus Kärnten
Hg. Universitätskulturzentrum UNIKUM
Drava Verlag, Klagenfurt, 2022

Anna Baar, Antonio Fian, Maja Haderlap, Alois Hotschnig,
Elke Laznia, Elena Messner, Daniel Wisser
Fotos: Verena Gotthardt
Projektleitung, Buchgestaltung: Emil Krištof
Literaturwissenschaftliche Begleitung: Klaus Amann