Ist Neue Musik von heute Alte Musik von morgen?

17. September 2005 Bernhard Sandbichler
29.09.2018 bis  29.09.2018
Bildteil

An der Innsbrucker Van-Staa-Kunst-Universität (IVASTKU) fand ein interdisziplinäres Symposion zum Thema »Wie lange das Neue in der Musik bleibt« statt. Vom bekannten Quantenphysiker Anton Zeilinger initiiert, ging es um die Halbwertszeit von Neuer Musik. Außerdem wirkten mit: der Kunsthistoriker Götz Pochat (Uni Graz), der Musikjournalist Reinhard Schulz sowie die ärztliche Leiterin der Plastischen Chirurgie Innsbruck, Frau Dr. Hildegunde Piza.

Ausgangspunkt für das Wissenschaftstreffen war die sattsam bekannte, weil oft wiederholte Feststellung von Exponenten der Alten Musik, dass recht eigentlich jede Musik, so nicht eben gerade gestern komponiert und uraufgeführt (und selbst da ist sie, wie gesagt, von gestern), bereits Alte Musik sei. Neue Musik genießt demnach bloß ephemere Existenz. Als Avantgarde überlebt sie im Höchstfall 2 bis 3 Tage, je nachdem ob sie nun Neue Musik von morgen oder gar übermorgen ist. Aber: Ist das auch so? Oder soll hier bloß Alte Musik weg vom Image der reinen Interpretationskunst gebracht werden?

Man erinnert sich, dass Nikolaus Harnoncourt die allgemein enthusiasmierte Hinwendung zu Alter Musik als betörte Schöngeistigkeit verurteilte, die sich verstörender Klangrede verweigere. Götz Pochat, Inhaber eines Lehrstuhls für Zeitgestalt-Theorie, berief sich in seinem Vortrag darauf und konnte darin dennoch keinen direkten Zusammenhang zur Zeit im Bild konstatieren. Mit Bezug auf sein Buch »Bild-Zeit« (Wien: Böhlau 2004) tat er Reflexionen zum Thema des Symposions dann pauschal als haltlose Spekulationen ab.

Reinhard Schulz brachte eine geografische Komponente ein: »Was in Köln neu ist, kann in Düsseldorf alt aussehen – Entschuldigung, ich meine: kann sich in Düsseldorf alt anhören.« Er wies sich nachdrücklich als Zeit-Raum-Relativist aus, »weil nämlich Alte Musik für den, der sie noch nie gehört hat, selbstredend Neue Musik ist.« Für den Musik-Journalisten sei die ganze Sache ein Problem, denn irgendwie könne er seriös weder von Neuer noch von Alter Musik berichten. Das sei auch der Grund dafür, dass heutzutage, journalistisch gesehen, eine Kritik der Interpreten vorherrsche.

Der Befund der ärztlichen Leiterin der Plastischen Chirurgie Innsbruck, Frau Dr. Hildegunde Piza, schließlich war humanperspektivisch: Neue Musik setze, erst einmal gealtert, unnützes Fett an und beginne Falten zu werfen. Sie spreche bildlich, sagte die Plastikerin und meinte wörtlich, dass noch unzählige Experimente am Menschen durchgeführt werden müssten, um solche Erscheinungen im übertragenen Sinn therapierbar zu machen. Und erst dann könne man Rückschlüsse auf den Alterungsprozess Neuer Musik wagen.

Die metaphorische Themenvorgabe stammte von Anton Zeilinger, der einleitend feststellte: »Die Neugierde muss brennend sein.« Jeder Komponist trüge dazu sein Schäufelchen bei, schütte Öl ins Feuer der Neugierde, steuere sein Quantum bei. Mit dem Gedanken an Halbwertszeiten sei man auf dem falschen Dampfer – er, Zeilinger, habe ebendiese Quäntchen ganz einfach gemessen: »Komisch, dass noch nie jemand auf diese Idee gekommen ist«. Die genauen Ergebnisse würden demnächst in »nature« publiziert werden. Dann werde man über das Verhältnis Alte/Neue Musik endlich Klarheit haben. Oder irre ich?

Und wenn schon! »Errare humanum est«, sagt Vater Hieronymus
(Epistulae 27,12), und wir sind schließlich alle bloß Menschen.

Quelle: Anton Zeilinger, »Wie das Neue in die Welt kommt«.
Rede zur Eröffnung des Brucknerfestes 2005