Hunger in Waldenburg

14. Februar 2019 Walter Gasperi
Bildteil

Schonungslos zeigt Phil Jutzi in seinem 1929 entstandenen mittellangen halbdokumentarischen Film "Um´s tägliche Brot. Hunger in Waldenburg" die Not und das Elend im niederschlesischen Kohlerevier Waldenburg. Gerade der Vergleich mit Wolfgang Neffs gleichzeitig entstandenem und am gleichen Ort spielendem Melodram "Morgenröte. Das Drama des Stollens "306" macht die Qualitäten von Jutzis sozialkritischem Meisterwerk deutlich. Die vom Filmmuseum Potsdam hergestellte DVD, die auch umfangreiches Bonus-Material enthält, ist bei absolut Medien auf DVD erschienen.

Mit "Mutter Krausens Fahrt zum Glück" (1929) wurde Phil Jutzi, der zwei Jahre später auch Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" verfilmte, zum führenden Vertreter des proletarischen Kinos der späten Weimarer Republik. Im selben Jahr wie "Mutter Krausens…" drehte er im niederschlesischen Kohlerevier Waldenburg auch den mittellangen halbdokumentarischen "Um´s tägliche Brot. Hunger in Waldenburg", der Jahrzehnte lang als verschollen galt. Erst 1974 wurde in der DDR eine fragmentarische Kopie ausgestrahlt, nun wurde der Film vom Filmmuseum Potsdam restauriert.

"Nichts anderes als die Wirklichkeit" zeige dieser Film, behaupten die Vorspanninserts und tatsächlich fängt Jutzi zunächst dokumentarisch die katastrophalen Wohnbedingungen der Arbeiter ein. Roh und unverfälscht sind die Bilder, des mit Bewohnern der Region gedrehten Films. Zum bitteren Kommentar wird die Darstellung der Zustände freilich durch Bilder an den Wänden, deren Aufschriften behaupten "Glaub an Gott – er hilft in der Not" oder "Trautes Heim mit seinem Frieden ist ein Stück Paradies" ebenso wie durch den Kommentar durch die für die DVD neu komponierte Musik mit dem Schlaflied "Guten Abend, gut Nacht". – Nie kann Film eben nur Abbildung der Wirklichkeit sein, immer muss der Regisseur dazu durch die Auswahl der Szenen und Bilder, aber eben auch durch die Musik Stellung zum Gezeigten beziehen.

Mit Inserts zu den bedrückenden Wohnverhältnissen, zum Hunger und den Krankheiten der Kinder verschärft Jutzi durch harte Fakten den sozialkritischen Impetus. Bissige Kritik an den Verhältnissen wird auch geübt, wenn der beklemmenden Not der Bergleute die Herrenhäuser der Oberschicht gegenübergestellt werden, die über die Kohlegruben, Land und Leute herrschen. Nur in der Totalen zeigt Jutzi aber diese prächtigen Landhäuser, ganz auf Augenhöhe mit der leidenden Arbeiterschaft bleibt der Film.

Eine Spielfilmhandlung kristallisiert sich aus der dokumentarischen Schilderung erst heraus, als sich der Fokus auf den Sohn eines Weberpaares verschiebt, der aus Not das Elternhaus verlässt und im Kohlerevier sein Glück sucht. Doch Arbeit findet er dort keine, erhält aber immerhin Unterkunft bei einer Witwe, deren Mann in der Grube umgekommen ist, und erfährt am eigenen Leib, wie die Arbeiter stets Delogierung aufgrund Rückstand bei der Zahlung der Miete befürchten müssen.

Jutzi gelang mit seinem Film ein erschütterndes Dokument unerträglicher Zustände, das entschieden für Veränderung plädiert. Schon in der Weimarer Republik wurde "Um´s tägliche Brot" deshalb von der Zensur stark gekürzt, von den den Nationalsozialisten wurde er nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 sofort verboten.

Interessant ist der Vergleich von Jutzis Film mit dem im gleichen Jahr und in der gleichen Region spielenden "Morgenröte. Das Drama des Stollen "306"". In beiden Filmen sieht man das gleiche Wirtshaus "Zur guten Laune". Was bei Jutzi freilich bitterer Kommentar zur Realität ist, ist bei Wolfgang Neffs Film nur Kulisse. Entscheidender ist aber die Gewichtsverlagerung.

Der ausführlichen halbdokumentarischen Schilderung der Lebens- und Arbeitsbedingungen bei "Um´s tägliche Brot" stehen bei "Morgenröte" lange Szenen im prunkvollen Haus des Leiters der Kohlengrube, Eheprobleme und melodramatische amouröse Verwicklungen gegenüber.

Für sozialrealistische Schilderung lässt sich Neff keine Zeit, macht zwar auch die Unterschiede zwischen herrschender Klasse und Arbeitern deutlich, lässt aber alle Probleme durch ein kitschiges Happy-End vergessen. Wo bei Jutzi am Ende ein fataler, wohl tödlicher Treppensturz steht, in dem sich nochmals die Macht der Herrschenden - in diesem Fall des Vermieters - über die Ausgebeuteten manifestiert, seht am Ende von "Morgenröte" eine Kutschenfahrt durch eine Schneelandschaft und ein Kuss zwischen Arbeiter und Frau der Chefetage, mit der die Klassengegensätze negiert oder aufgehoben werden.

Zusätzlich bietet die DVD noch den 2016 gedrehten 23-minütigen Dokumentarfilm "Kohle als Honorar", in dem Uwe Mann in begleitender Beobachtung zeigt, wie eine polnische Familie heute noch aus Not in den stillgelegten Bergwerk Kohle in Eimern gewinnt und in Säcken sammelt.

An Sprachversionen bietet die von absolut Medien und arte herausgegebene DVD die deutsche Originalfassung sowie englische und polnische Untertitel. Die Extras umfassen eine DDR-Tonversion von 1975 von "Um´s tägliche Brot" sowie der 1975 in der DDR entstandene 25-minütige Dokumentarfilm "post scriptum Vetschau 1975", in dem eine der Laiendarstellerin über die Dreharbeiten von Jutzis Film und ihr Leben in der DDR erzählt.

Dazu kommt ein umfangreicher Datenteil (pdf-Dokumente) mit einem 78-seitigen deutsch-polnischen Booklet, Zensurdokumenten, einem umfangreichen Dokument zur Tonfilmfassung der DEFA von 1975 und das Exposé zum DEFA-Film "post scriptum Vetschau 1975".