Hier und Jetzt - Wien Skulptur 2022

Formal und materiell vielfältig sowie thematisch divers gibt die Gruppenausstellung einen Einblick in das derzeitige bildhauerische Schaffen in der österreichischen Hauptstadt. Skulpturen, Plastiken, Wandobjekte und installative Arbeiten von internationalen, in Wien lebenden und arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern zeigen sowohl in ihrer jeweiligen Eigenart als auch in dem spannenden Wechselspiel miteinander das, was zeitgenössische Skulptur aktuell verhandelt und sein kann. Die Ausstellung ist weder Überblicksschau noch abschließende Aufarbeitung. Sie wirft vielmehr einen blitzlichtartigen Blick auf die Vielfältigkeit innerhalb der künstlerischen Disziplin.

Der Gattungsbegriff der Skulptur ist seit jeher geprägt von einer stetigen konzeptionellen Erweiterung. Die gegenwärtige Heterogenität bezieht sich auf alle Aspekte des Schaffens: von künstlerischer Idee über Formgebung, Produktionsverfahren bis zu Materialauswahl sowie -beschaffenheit. All das spiegelt in der jeweiligen Ausformung Aspekte unseres gesellschaftspolitischen Gefüges und der darin entstehenden künstlerischen Produktionsbedingungen. Dabei lassen sich diese Beobachtungen innerhalb der in Dornbirn präsentierten Auswahl nicht gänzlich als Wiener Lokalkolorit interpretieren, denn unsere Gegenwart ist wie keine Zeit zuvor von komplexen Prozessen der Globalisierung beeinflusst. Das wirkt sich einerseits massiv auf die Verfügbarkeit von Materialien jeglicher Art aus, ermöglicht andererseits den leichten Zugang zu industriellen Produktionsverfahren, aber auch den globalisierten Kunstmarkt, an dem alle Künstlerinnen und Künstler partizipieren.

Produktion, Verarbeitung und Verwendung von Materialien sind immer Spiegel der historischen Situation. Materialien sind zeitgeschichtlich aufgeladen, hierarchisch geordnet, symbolisch belegt, haben eine soziale Funktion. Sehr häufig ist dieses Wissen um die tradierten Bedeutungen nicht mehr sehr stark ausgeprägt und damit definitionsgebend in Kraft. Künstlerinnen und Künstler gehen heute sehr frei mit Produktionsprozessen, Texturen und Materialität um, was mitnichten als Unwissenheit ausgelegt werden darf. Vielmehr ist die Erweiterung des Kunstbegriffs seit den 1960er Jahren immer noch wegbereitend.

Birke Gorms installative Arbeiten "capacity and composure" (2021) führen diese Art des reflektierten und bewussten Gebrauchs kunstfremder Materialien vor: Sie gibt dem einfach zugänglichen und günstigen Material der Jute eine bestimmende gestaltende Präsenz. In dem typischen Braunton scheinen die fast schon gemütlich wirkenden "Sitzsäcke" landwirtschaftlichen Futtersäcken nachgeahmt. Sie sind jedoch angebunden, übersäht mit alten Dosenverschlüssen und kombiniert mit niedrigen Hockern – welche Situation hier verlassen wurde, bleibt uns vorbehalten zu erdenken. Die Materialästhetik Rudolf Polanszkys speist sich ebenso aus leicht verfügbaren Materialien. Seine Arbeiten, wie auch die Werke in der Ausstellung "fragmentic objects" (2020/2022), entstehen aus alten Industriestoffen, wie Acrylglas, Harz, Silikon, Draht oder Spiegelfolie. Polanszky überführt sie in rein formale, abstrakte Kompositionen von überraschender Energie und Schönheit, jenseits ihres ursprünglichen materiellen Nutzens.

Die Kombination aus formgebender Kartonschachtel und der Ausarbeitung in ultrahochfestem Beton bei Peter Sandbichlers "Alte Schachtel #8/2020" (2020), die Messingabgüsse von temporären Schnee- und Eisgebilden in "Poems to Gadgets (Icicles)" (2018) von Angelika Loderer oder die metallischen Faltungen von Michael Kienzers "Graues Verhältnis" (2019) sind medial und formal vielfältige Beispiele für Werke, in denen das inhärente Spannungsverhältnis aus der Gegensätzlichkeit von Material und Form/Funktionalität klar intendiert und pointiert herausgearbeitet ist. Wie Sandbichlers Schachtel, die als Schachtel erkennbar und doch augenscheinlich zweckentfremdet ist, spielt auch "Stove" (2021) der Künstlerin Kerstin von Gabain mit dem performativen Wahrnehmungsprozess und der Irritation. Das kleine Remake eines Ofens wird auf den ersten Blick als solcher identifiziert, und ohne Umwege werden die damit verbundenen Erwartungen und gelernten Assoziationen ad acta gelegt, denn eine nutzbare Funktion scheint ausgeschlossen. Für beide Arbeiten – Sandbichlers Schachtel und von Gabains Ofen – ist der Kontext im Wahrnehmungsprozess prägend.

Die Arbeiten Constantin Lusers sind genuin in der Zeichnung angesiedelt, die Übertragung in den dreidimensionalen Raum geschieht dabei in konsequenter Weiterentwicklung der linearen Strukturen. Das feingliedrige Messingdrahtobjekt "Schallmaurerei" (2021) erzählt von der räumlichen Komponente des Klangs – eine thematische wie formale Abstraktionsleistung. Augenscheinlich verwandt und gleichzeitig komplett anders gelagert ist die hängende Drahtskulptur "Volkswagen" (2012/2022) von Fritz Panzer. Wir stehen wieder dem Konzept der räumlichen Übersetzung der gezeichneten Linie gegenüber, dieses Mal jedoch im Maßstab 1:1, rein figurativ und nachformend: skizzenhaft erkennbar die Nachzeichnung der ikonischen Formgebung eines VW Golf 1.

Materialität kann entscheidende Auswirkungen auf den Abstraktionsgrad eines künstlerischen Entwurfs haben und damit auf die Bezugnahme zu unserer Gegenwart. Während Siggi Hofer seine inselartigen Hochbauten "New York / Chicago" (2016/2022) aus Playmobil entwirft und ein utopisches Szenario des urbanen Spiels entstehen lässt, reduziert Toni Schmale in "schlauch #1" und "schlauch #2" (2022) in den verzinkten Platten und Stahlrohren die augenscheinliche Deutbarkeit auf ein Minimum. Wenn auch in ihrer physischen Bezugnahme erheblich abstrahiert, so wird doch deutlich, dass diese klaren, geschmiedeten Gebilde nicht im Sinne der l’art pour l’art hier installiert sind.

Vielleicht stehen wir vor zwei erstarrten sogenannten "Battle Ropes", deren eindrückliches Versprechen die Optimierung des gesamten Körpers, wenn nicht unseres ganzen Seins ist?

Der ironisch gewitzte Blick auf patriarchale Strukturen und selbstreferentielle Narrative ist auch in Sasha Auerbakhs Objekt "Sebastian S. 2" (2020) unverkennbar. Von der Decke hängen an einer schwarzen Kette, die bestückt ist mit schwarzen kleinen Vorhängeschlössern, wie man sie seit jeher als Paten der ewigen Liebe an Brücken befestigt und die Initialen auf ihnen verewigt, zwei große weiße Kugeln. Aufkleber männlicher Akte zieren diese wie zufällig.

Während Schmale mit der unerreichbaren Idealisierung unseres gegenwärtigen sozialen Gefüges und gesellschaftlicher Zuschreibungen durch wiedererkennbare Abstraktion arbeitet und Auerbakh fetischisierte Klischees als inhaltliche Folie nutzt, beschäftigt sich Sonia Leimer in ihrer Serie "Schwarzes Loch" (2014) mit der Zeit des Wirtschaftswunders in einer zitierenden Weise. Erkennbar ist das erst auf den zweiten Blick, denn die auf Armiereisen montierten "Space Age"-Vasen aus den 1960er und 70er Jahren sind als solche nicht mehr sofort identifizierbar – nicht nur, weil sie auf einer Höhe von circa 2,5 Metern hängen. Die Oberflächen wurden durch eine Schmelzglasur partiell verdeckt und ihre ursprünglichen Erscheinungen so verändert. Ihrer Funktion enthoben stellen die Vasen ihr undefiniertes, weil dunkles und unbegrenztes Inneres zur Schau.

Peter Sandbichlers "Schlagbaum" (2011) ist eine ausbalancierte Verspannung von an Schlagbäume, also Grenzbalken, erinnernden großen Stäben. Die Thematik der Grenze scheint ad absurdum geführt. Ist es eine Begrenzung, eine Ein- oder Ausgrenzung, eine territoriale oder geistige? Die Grenzbalken halten sich gegenseitig, und sie vereiteln damit ihre eigentliche Funktion. Ein ironischer Verweis auf unser historisches Erbe mit erschreckendem Aktualitätsgehalt.

Mit Sasha Auerbakh, Kerstin von Gabain, Birke Gorm, Siggi Hofer, Michael Kienzer, Sonia Leimer, Angelika Loderer, Constantin Luser, Fritz Panzer, Rudolf Polanszky, Peter Sandbichler und Toni Schmale.

Hier und Jetzt. Wien Skulptur 2022
Eröffnung: Donnerstag, 17. November 2022, 19 Uhr
Künstler:innengespräch: Freitag, 18. November 2022, 14 Uhr
Ausstellungsdauer: 18. November 2022 bis 12. Februar 2023
Kurator:innen: Herwig Kempinger, Kasia Matt-Uszynska, Thomas Häusle