Helena Adler. Drei letzte Texte

Dass die bisher unveröffentlichten Texte aus dem Nachlass von Helena Adler nun in einem wertvollen Büchlein vorliegen, ist ein Geschenk. Die Autorin gehört gewiss zu den ganz Großen der österreichischen Literatur, für zwei gefeierte Romane hat ihre Lebenszeit ausgereicht. "Helena Adler schreibt Prosa, die sich durchs Fleisch bohrt, um für immer in den Knochen zu bleiben. Das ist wild-wuchernde Sprachkunst, die einzigartig ist in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur", wird die ORF-Literaturkritikerin Katja Gasser auf der Website des Jung und Jung Verlags zitiert.

Titelgebend ist der längste der drei Texte. "Miserere Melancholia" hätte Helena Adler beim Bachmann-Wettbewerb im Rahmen der Tage deutschsprachiger Literatur 2023 in Klagenfurt gelesen, sie musste jedoch absagen, denn kurz zuvor ereilte sie die Diagnose: Gehirntumor. "Die alten Sommer werden sterben, bevor sich ein einziger Winter nach ihnen umdreht …", schon der erste Satz klingt nach beklemmender Vorahnung, ihr Schreiben erscheint aus höheren Sphären. Der Text ging aus einer Auftragsarbeit für die Tiroler Volksschauspiele Telfs hervor, die eine intensive Beschäftigung mit der personifizierten Todsünde der Trägheit – Acedia – angestoßen hat, die Helena Adler auch als Melancholie versteht: "Es handelt sich um ein Zwiegespräch zwischen der Protagonistin und ihrer eigenen Acedia-Ausgeburt. Der Schwermutsdämon stellt sich als allgegenwärtig dar, manchmal ist er übermächtig, dann wiederum ist sie ihm überlegen. Sie erlebt ihn teilweise als von ihr entkoppelt und im nächsten Moment wieder als symbiotisch oder parasitär." Auch das Coverbild mit einem Ausschnitt des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald bezieht sich auf das Laster aller Laster, die Trägheit der Seele.

In der Anfangsgeschichte "Ein guter Lapp in Unterjoch" wird es noch deutlicher: "Mit seinem Ruinenkörper baut er Häuser, während sein Fleisch zerfällt. Vor drei Wochen bekam er die erste Bestrahlung, in der Stadt, dort, wo die Fassade dem Felsen den Rücken zuwendet." Der Maurer Josef hat einen Hirntumor. Er ist als "Hochzeitslader" im Dorfleben gut integriert, doch die traditionelle "Brautentführung" eskaliert … "Aber das sieht und riecht Josef nicht, weil ihm nie jemand davon erzählt hat."

Auf Einladung des ORF Salzburg ist "Unter die Erde" bereits im September 2022 entstanden. Es ist der kürzeste Text, nur zwei Seiten: "Aus meiner Grabesstille wächst ein Schwelgen, und jetzt treibe ich aus. Eine Vertriebene mit Austrieben. Eine Vertriebene, die selbst austreibt. Unter der Erde, die meine Haut ist, überwintert mein gelbes Fleisch. Schon morgen zerfällt es auf den Zungen der von euch Gesteinigten. Verfault bin ich und doch in aller Munde." Einmal, zweimal, dreimal lesen … und noch einmal. Die Worte fehlen, wohin die Texte von Helena Adler die Leserin geleiten …  

Helena Adler
Geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg, gestorben 2024 in Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg.
Auszeichnungen: 2022 Shortlist Österreichischer Buchpreis, 2020 Longlist Deutscher Buchpreis, 2020 Shortlist Österreichischer Buchpreis, 2020 Projektstipendium Literatur BKA, 2018 Jahresstipendium Literatur, Salzburg
Bücher: Die Infantin trägt den Scheitel links (2020), Fretten (2022)

Helena Adler
Miserere. Drei Texte
Jung und Jung, 2024
72 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-99027-407-1