Favorit auf den "Goldenen Leoparden" und erster echter Höhepunkt des Wettbewerbs ist zur Halbzeit des 60. Filmfestivals von Locarno der kanadische Beitrag "Contre toute espérance". Ebenso zurückhaltend wie konzentriert erzählt Bernard Émond eine menschliche Tragödie in Zeiten der Globalisierung. Der deutsche Film "Früher oder später" scheitert dagegen an einem schablonenhaften Drehbuch.
Eine Achterbahnfahrt als Metapher für das Gefühlskarussell einer Familie, speziell der 14-jährigen Tochter Nora (Lola Klamroth) ist der gelungene Einstieg von Ulrike von Ribbecks Spielfilmdebüt "Früher oder später". Auch die Perspektive des Teenagers vermittelt die deutsche Regisseurin mit sanften Farben, mit blassem Rosa und Grün, Beigetönen und Braun überzeugend. Alles Scharfe und Grelle scheint durch Filter gedämpft und durch Schmusesongs wird zudem die Atmosphäre einer heilen Girlie-Welt beschworen. Auch an der Kreisführung der Handlung mit Gartenfest am Beginn und Ende gibt’s nichts zu kritisieren. Sorgfältig inszeniert ist "Früher oder später" und mit einem hervorragenden von Peter Lohmeyer und Lola Klamroth angeführten Ensemble besetzt.
Doch ein Film lebt eben nicht nur von der Form, sondern auch von der Geschichte und hier packt Ulrike Ribbeck alles rein, was deutsche Familiendramen der letzten Jahre von Alain Gsponers "Das wahre Leben" über Matthias Lutthardts "Pingpong" bis zu Stefan Krohmers "Sommer 04" zu bieten hatten. Da verknallt sich der Teenager in den neu einziehenden 40-jährigen Nachbarn, der einst der Liebhaber der Mutter war. Da beginnt ein Student für die Mutter, die ihr einst abgebrochenes Geschichte-Studium wieder aufnimmt, zu schwärmen. Und der Vater droht seinen Job zu verlieren, da sein Kompagnon das gemeinsame Küchenstudio – der Job passt wiederum zum familienzentrierten Vater - verkauft. Wenn dann auch noch ohne jede ironische Brechung Sätze fallen wie "Echte Schönheit kommt von Innen" oder "Wenn ein Mann einmal am K2 war, gibt es für ihn im Leben keine wirkliche Herausforderung mehr", dann können aber die formalen Qualitäten weder den Verlust jeder Glaubwürdigkeit verhindern noch über den Absturz in die Klischees deutscher Familiengeschichten hinwegtäuschen.
Wie man eine Geschichte überzeugend und bewegend erzählt, kann man an "Contre toute espérance" von Bernard Émond dagegen förmlich studieren. Schon mit den ersten Einstellungen, in denen ein Kommissar eine ihm stumm gegenüber sitzende Frau nach den Blutspuren auf ihrem Kleid und dem Gewehr in ihren Händen befragt, erzeugt der Quebecer eine Dichte und Ernsthaftigkeit, die den Zuschauer packen. – Alles ist schon vorüber, in Rückblenden wird die sich über mehrere Jahre erstreckende Vorgeschichte rekonstruiert. Zuschauer und Kommissar sind deckungsgleich, der Aspekt der Recherche wird dabei aber nie forciert, dient einzig um die erzählte Geschichte in der Gegenwart zu verankern.
Am Beginn steht der Hauskauf eines glücklichen Paares, doch bald erleidet der als LKW-Fahrer arbeitende Mann einen Schlaganfall, ist halbseitig gelähmt und im Sprachvermögen stark eingeschränkt. Langsam, Schritt für Schritt, aber unerbittlich vollzieht sich die Tragödie, denn die Frau wird nach Verkauf des Call-Centers, in dem sie arbeitet, ihren Job verlieren, die Behinderung des Mannes wird nach einem zweiten Schlaganfall größer, sodass er sich selbst aufgibt. Und während die Frau den Druck kaum mehr aushält, das Haus wieder verkaufen muss, wird das wirtschaftliche Geschick und das Vermögen des Konzernchefs, der sie entließ, in der Öffentlichkeit groß gefeiert. – Am Einzelschicksal zeigt Émond beiläufig die Folgen des Neoliberalismus und der Globalisierung und kritisiert eindringlich, aber ohne lauten polemischen Aufschrei eine Wirtschaftspolitik und eine Gesellschaft, die nur am Profit, aber nicht am Wohl des einzelnen Menschen interessiert sind. – In einer Welt, der jede Menschlichkeit abhanden gekommen ist, bleibt der Frau am Ende als einzige Hoffnung ein Hilferuf an Gott - doch dieser scheint zu schweigen.
Nach dem Glauben in "La neuvaine", der in Locarno vor zwei Jahren lief, rückt Émond im zweiten Film seiner Trilogie zu den göttlichen Tugenden (Glaube, Nächstenliebe, Hoffnung) die Hoffnung in den Mittelpunkt. Wie der Vorgänger zeichnet sich auch "Contre toute espérance" durch eine schnörkellose, aber zutiefst mitfühlende, von großer Menschlichkeit getragene Inszenierung aus. Jede Szene hat hier ihre Funktion, alles Überflüssige wird ausgespart. Diese Prägnanz der zurückhaltenden Inszenierung und natürlich die überragenden Schauspieler, von denen vor allem Guy Jodoins Leistung in der Rolle des invaliden Mannes gar nicht zu überschätzen ist, verleihen dieser leisen und feinfühligen Tragödie eine Dichte und eine bewegende Kraft, die sie weit über das Ende hinaus nachwirken lassen.