Gründer des Büros für künstlerische Umtriebe auf dem Lande H.R. Fricker †

Zeit seines künstlerischen Schaffens war der 1947 in Zürich geborene Appenzeller Künstler H.R. Fricker ein Vernetzungsstratege. Ab Ende der 1970er-Jahre etwa nutzte er die Fotokopie für seine Kunstaktionen im öffentlichen Raum. So markierte er seine Wege durch St. Gallen mit Fotokopien seines Selbstporträts. Daraufhin entstand eine Kleinplakatszene in den Strassen von St. Gallen. 1980 proklamierte er mittels Plakaten die „fiktive Kunsthalle St.Gallen“.
Überregional ging so richtig die Post ab, als er 1981 in Trogen sein „Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Lande“ gründete und in der weltweiten Mail-Art-Szene aktiv wurde. Ein intensiver und gegenseitig befruchtender Austausch auf dem klassischen Post- und aber auch Fax-Weg mit zahlreichen Kunstschaffenden in allen Winkeln der Welt setzte ein. Dem Berner Kommunikationsmuseum hat er ein riesiges Archiv aus dieser Zeit überlassen. Längst aber sind auch E-Mail und Internet zu einem zentralen „Material“ geworden.

Weithin bekannt und zu unschätzbaren Sammlerstücken geworden sind vor allem seine Briefkuverts, die er mit selbstentworfenen und selbst gedruckten Briefmarken künstlerisch gestaltete. Bis zuletzt verschickte er monatlich bis zu 200 solcher Künstlerbriefe an Networking-Kollegen, Sammler und Freunde. In den letzten Jahren sind auch die Sozialen Medien wie etwa Facebook zu wichtigem Netzwerkmaterial geworden.
Nun hat sich H.R. Fricker für immer aus der Netzwerker-Szene verabschiedet. Am 6. Mai war sozusagen sein“Last day of issue“, wie eine Briefmarke auf einem Stoneland-23-Kuvert auf seinem Facebook-Account verkündet, der mittlerweile aufgrund unzähliger Postings aus aller Welt „aus allen Nähten platzt“.

VerORTer

Als Networker und notorischer „VerORTer“ markierte und definierte Fricker seit den späten 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts auch geografische Räume und städtische Territorien durch sprachlich-bildhafte physische Zeichen und entriss sie damit der Lethargie der indifferenten Alltäglichkeit. Zum Beispiel legte er vor rund dreissig Jahren anlässlich seiner Einzelausstellung im Magazin IV in Bregenz einen Ortekataster für die Bodenseestadt an. Die Ausstellungshalle des Vorarlberger Kunstvereins beliess er dabei völlig leer und erklärte die ganze Stadt zur Kunstzone. Mit Hilfe von Schildern à la „Ort der List“, „Ort der Angst“ und anderen erstellte er einen eigenen Raumraster und entwickelte ergänzend dazu einen speziellen Stadtplan, in dem die neuen Orte eingetragen waren. Ein Vorgehen, das er in abgewandelter Form und stets individuell abgestimmt an vielen weiteren Orten ebenfalls durchführte.

Er besetzte topografische Zonen und kennzeichnete sie mit textuellen „Marksteinen“. Seine Schilder, Tafeln, Buttons oder Platten lieferten jedoch keine geografischen Orientierungsmöglichkeiten, sondern luden alltägliche Umgebungen mit irritierenden Begriffen auf. Die auf allen möglichen Bildträgern angebrachten Wörter und Wortgruppen verstören die Betrachter, da die inhaltlich auf menschliche Charaktereigenschaften Bezug nehmenden Termini an den von Fricker für sie zugedachten Orten befremden und solcherart die Erwartungshaltungen zum Kippen bringen.
Auf den ersten Blick nehmen sich die Sprachbilder des Künstlers im öffentlichen Raum wie vertraute, selbstverständliche visuelle Elemente aus, um dann im Erfassen der inhaltlichen Tragweite der Worte diese Vertrautheit des Optischen zum Einsturz zu bringen. Das Auftauchen emotionaler Begrifflichkeiten an Stellen, wo man sie nicht erwartet, wirkt wie ein Angriff auf die Unschuld des Denkens. Indifferenter Alltagsraum wird durch sprachliche Claims menschlicher Wertigkeiten zum Leben erweckt und neu definiert.

2007 entstand seine Homepage „placeofplaces.com“, ein frühes Beispiel für einen Online-Shop, über den man „Ortsschilder“ wie etwa ORT DER LIST, ORT DER GEWALT oder ORT DER IRONIE erstehen konnte. Auch gründete er eigene Museen wie das „Alpstein Museum“, das vor allem aus Hausbibliotheken in Berggasthäusern besteht, und das Museum für Lebensgeschichten. Und 2005 rief er zudem den „Trogener Kunstpreis für Menschen mit Behinderung“, für Outsider-Kunst ins Leben.

Mit H.R. Fricker verliert Trogen nicht nur seinen aktuell berühmtesten Bewohner und Künstler, sondern auch einen großen Humanisten und Menschenfreund, der sich stets vehement gegen jegliche Form von Abstumpfung und Indifferenz auflehnte.