Glückliche Tage?

Die Kunstgeschichte ist reich an Kinderdarstellungen. Über die Epochen hinweg lassen sich Kinderbilder wie Sittengemälde ihrer Zeit, wie gesellschaftliche Momentaufnahmen lesen. Jenseits der Welt der Märchen und Fabeln, jenseits von heiterem Kinderglück und Mutterliebe stellen sich Fragen nach sozialen und gesellschaftlichen Orientierungen, nach Erziehung, Züchtigung oder Missbrauch, Sexualität und moralischem Wandel, nach Krankheit und Tod.

Überraschenderweise wurde das Thema bislang in der Schweiz noch nicht eingehend bearbeitet. In Schaffhausen geben rund 80 Gemälde und Fotografien erstmals einen exemplarischen Einblick. Brisanz verleiht dem scheinbar so idyllischen Thema die derzeitige Diskussion über die Vernachlässigung von Kindern, über Jugendgewalt und eine zunehmend überalternde Gesellschaft, und das nicht nur in der Schweiz.

Oft wird das Thema Kinder in der Kunst mit heiterer Idylle, lieblichem Behütetsein und naiver Harmlosigkeit verbunden. Bei genauerer Betrachtung spricht jedoch eine Vielzahl der Bilder eine andere Sprache. Bereits die Kinder des 18. Jahrhunderts erscheinen nicht immer glücklich, in den feudalen Gewandungen der Erwachsenenwelt posieren zu müssen. Kinderarbeit im 19. Jahrhundert ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Kinder keineswegs nur dem alleinigen Glücklichsein überlassen wurden.

Und erst recht zeichnet die Kunst des 20. Jahrhunderts ein Bild des Kindes zwischen Einsamkeit, Angst und Gewalt. Die Ausstellung zielt auf diesen schillernden, ambivalenten Grat zwischen Idylle und Abgrund. Die unbeschwerte, kindliche Leichtigkeit wird dabei keineswegs ausgeblendet, jedoch um eine andere, dunklere Seite ergänzt, die immer schon existierte, auch und gerade in der "guten, alten Zeit".

Die thematische Gegenüberstellung der Werke quer durch die Jahrhunderte eröffnet faszinierende Dialoge zwischen den Bildern, zeigt erstaunliche Konstanten auf und markante Veränderungen. Die Themen fokussieren exemplarisch fünf zentrale Lebenswirklichkeiten des Kindes. Zunächst die enorme Fülle an Kinderporträts: Das Kapitel 100 Kinderaugen entdecken die Welt stellt Fragen nach den seelischen Befindlichkeiten des Kindes, die sich im Blick, in der Mimik oder in der Körperhaltung formulieren. Heiterkeit, Trauer, Angst und Trotz sind einige der emotionalen Stimmungslagen, die sich durch alle Epochen ziehen.

Ein Stück vom Paradies? geht der von so vielen heiss geliebten Idylle der Kindheit nach. Aber gibt es sie wirklich, die paradiesischen Zustände voller Unschuld? Der Begriff des Paradieses erweist sich als schillernd und doppeldeutig. Erst recht zeigt sich, dass die so unbeschwert vermutete Idylle manchmal eher den Wunschprojektionen der Erwachsenen und weniger der Lebenswirklichkeit der Kinder entspricht. Spiel und Lebensernst öffnet ein breites Spektrum vom unbeschwerten Kinderspiel bis zum bitteren "Ernst des Lebens", wenn die Regeln und Konventionen der Erwachsenen in die Kinderwelt einbrechen.

Als besonders interessant erweisen sich Bilder, in welchen das Spiel plötzlich in Ernst umschlägt. Das Kapitel Liebe und Leid beleuchtet einerseits Facetten mütterlicher Liebe beziehungsweise das Gefühl der Geborgenheit in der Familie. Andererseits treten Erfahrungen
von Krankheit und Tod, Armut und Einsamkeit hinzu. Eine radikal einschneidende Erfahrung im Leben von Kindern stellt der allmähliche Übergang vom Kind zum Erwachsenen dar: Abschied von der Kindheit zeigt die physischen und psychischen Veränderungen auf und beleuchtet das sich dramatisch wandelnde Lebensgefühl. Die Bilder zeigen, dass existentielle Ängste und Unsicherheiten diese Prozesse begleiten und die Heranwachsenden zwischen der Imitation der Erwachsenen und der Rebellion gegen sie hin- und hergerissen sind.

In der Ausstellung sind einige der bedeutendsten Schweizer Künstler ihrer Zeit vertreten, darunter: Anton Graff, Angelika Kauffmann, Albert Anker, Frank Buchser, Giovanni Giacometti, Ferdinand Hodler, Adolf Dietrich, Varlin, Annelies Štrba, Uwe Wittwer. Aber auch junge,
vielversprechende Schweizer Kunstschaffende sind zu entdecken und vertreten die unmittelbare Gegenwart, z.B. Samuel Blaser, Klodin Erb, Tatjana Gerhard, Laurence Huber, Anna Meyer, Chantal Michel, Léopold Rabus. Markus Stegmann


Eine umfangreiche Begleitpublikation dokumentiert die Werke der Ausstellung und gibt vertieften Einblick in historische, soziale und psychologische Zusammenhänge. Essay von Markus Stegmann, 84 Seiten, 69 Farbabbildungen, Hardcover, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, CHF 48.- (in der Ausstellung).

Glückliche Tage?
Kinder in der Schweizer Kunst vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart
18. Mai bis 21. September 2008