Geraubte Kindheit

"Verdingkinder reden – Enfances volées" ist als zweisprachige Wanderausstellung von 2009 bis 2013 voraussichtlich an zehn Standorten in der Deutschschweiz und in der Romandie zu Gast. Bei der Präsentation im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen handelt es sich um den neunten Standort. Träger des Projekts ist der Verein Geraubte Kindheit. Er hat sich zum Ziel gesetzt, das Thema der Fremdplatzierungen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und dabei ehemalige Verdingkinder selber zu Wort kommen zu lassen. In ihrer Kindheit und Jugend waren die Betroffenen Opfer von Willkür, falschen Massnahmen und Gewalt. In der Ausstellung treten sie als Bürgerinnen und Bürger mit Erfahrung auf, die uns etwas zu sagen haben.

Die Geschichte der ausserfamiliären Erziehung in der Schweiz wurde bis heute nicht umfassend wissenschaftlich erforscht. Es existieren lediglich Arbeiten zu einzelnen Institutionen oder Regionen. Auf viele Fragen gibt es deshalb heute keine Antworten. Eine wissenschaftliche Untersuchung müsste neben den Lebensbedingungen der Kinder, ihrer Familien und Pflegefamilien auch die Motive, Arbeitsweisen und Handlungsspielräume der Behörden und Erziehungsinstitutionen berücksichtigen. Das kann diese Ausstellung nicht leisten. Ihre Aussagen beruhen einzig auf dem Bestand von rund 300 Interviews mit ehemaligen Heim- und Verdingkindern, die im Rahmen der Forschungsprojekte der Ecole d’Etudes Sociales et Pédagogiques in Lausanne und der Universität Basel zwischen 2003 und 2007 entstanden und sich auf Begebenheiten und Erlebnisse der Zeitzeugen zwischen 1920 und 1960 beziehen.

Die Ausstellung ist in mehrere Räume gegliedert. Sie widmen sich verschiedenen Themen, die in der Erinnerung der Betroffenen eine Rolle spielen. An Hörstationen kann man Ausschnitte aus den Interviews wählen, dazu findet man in den Räumen ergänzende Daten und Fakten. Eine sparsame Inszenierung mit Zitaten und Gegenständen aus den Zeitzeugenberichten hilft, sich in die Welten zu versetzen, von denen die Betroffenen erzählen. "Verdingkinder reden – Enfances volées" bewahrt ein Kapitel der Schweizer Geschichte vor dem Vergessen, indem sie den Stimmen von Betroffenen Raum gibt.

Dahinter steht die Idee, dass aus den Erfahrungen von gestern etwas für heute und morgen zu lernen wäre – wenn auch nicht direkt für die konkrete heutige Praxis, so doch im Sinne einer gesteigerten Sensibilität für die Folgen unzulänglicher Massnahmen. Die Ausstellung sagt nicht, wie es sein sollte, sondern regt zu Fragen an und bietet eine Plattform für Diskussionen – und schlägt Brücken zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft der ausserfamiliären Erziehung.

Verdingkinder reden
24. November 2012 bis am 24. April 2013