Drei Uhr nachts in einer Bar in New York City: Eine Koreanerin sitzt zwischen zwei Männern, einem Koreaner und einem Amerikaner, der gelangweilt Erdnüsse schält und müde lächelnd immer wieder zu den anderen schaut. Zwei Stimmen aus dem Off fragen sich, wie das Trio zu einander stehen könnte, stellt Theorien zu den Beziehungen auf, womit sich das Kinopublikum dieselbe Frage stellt.
In ihrem Kinodebüt schafft es die Regisseurin Celine Song ausgehend von dieser simplen Einstiegsszene die Spannung über 106 meist ruhige Minuten hinweg zu halten. Die Vorgeschichte, die zu dieser durchzechten Nacht führt, wird in drei Zeitebenen erzählt.
Viele Kritiken vergleichen "Past Lives" deswegen zurecht mit der "Before"-Trilogie von Richard Linklater, in der Ethan Hawke und Julie Deply sich mit Jahren Abstand immer wieder in unterschiedlichen europäischen Städten treffen.
Ähnlich ergeht es den Figuren in "Past Lives": Nora und Hae Sung waren bis zu ihrem zwölften Lebensjahr Sandkastenfreunde, bis Nora mit ihren Eltern nach Kanada auswandert. Jahre später finden die beiden via Social Media wieder zueinander und treffen sich digital zum regelmäßigen Gespräch. Nora arbeitet inzwischen in New York als angesehene Dramatikerin, während Hae Sung in Seoul geblieben ist. Obwohl 11.000 Kilometer das Paar trennen, spürt man ihre Verbundenheit noch immer, auch wenn sie über belanglose Alltäglichkeiten sprechen. Ein tatsächliches Treffen wird geplant und immer wieder verschoben. Die Theaterproben, das Studium, die Distanz, die kulturelle Fremdheit – jede Ausrede scheint recht, um die Liebesbeziehung traumtänzerisch zu halten. Irgendwann wird Nora das digitale Hin- und Her zu viel und sie bricht den Kontakt ab. Sie lernt den Autor Arthur kennen und lieben, sie heiratet – und 12 Jahre später kündigt Hae Sung spontan endlich seinen lange versprochenen US-Besuch an.
"Was wäre, wenn ... ?"-Spiele und autobiografisches Erzählen
Der Filmtitel bezieht sich auf das koreanische Konzept des "In-Yun", wonach in der Liebe immer wieder Seelen zueinanderfinden, die sich schon in vorherigen Leben begegnet sind. Auch das frühere Leben von Einwanderinnen und Einwanderern könnte gemeint sein, dass oft so wenig mit dem neuen Lebensmittelpunkt zu tun hat. Hauptfigur Nora muss ihre Sprache, ihre Kultur und Kindheitsfreunde zurücklassen muss, um in einem anderen Kontinent ein neues Leben zu beginnen.
Wie Nora ist auch die Regisseurin Celin Song im Alter von 12 Jahren gemeinsam mit ihren Eltern von Südkorea nach Kanada übersiedelt. Auch die Einstiegsszene in der Bar beschreibt Song als autobiografisch inspiriert und erinnert sich an eine reale Begebenheit: "Ich sitze dort zwischen diesen beiden Männern, von denen ich weiß, dass sie mich auf unterschiedliche Weise lieben, in zwei verschiedenen Sprachen und zwei verschiedenen Kulturen. Und ich bin der einzige Grund, warum diese beiden Männer sogar miteinander sprechen."
Es ist ein faszinierender Film, der das Publikum in eine komplexe Welt der Vergangenheit, Kindheitserinnerungen und dem "Was wäre wenn"-Spielen entführt. Die Hauptfigur Die Regisseurin schafft es, eine realistische Liebesgeschichte zu erzählen, die das Publikum von Anfang bis Ende fesselt und dabei mit den Erwartungshaltungen an das Genres bricht.
Die Charaktere sind liebevoll ausgearbeitet und ihre Beziehungen zueinander werden sorgfältig aufgebaut. Die erste Stunde des Filmes agiert dabei als dramaturgische Rampe, um im letzten Drittel seine angesparte Emotion in einem Sprung zu entladen. Die Zuschauerin wird dabei auf eine melancholische Reise mitgenommen, um die Geheimnisse von "vergangenen Leben" zu entdecken und zu verstehen, wie diese ihr heutiges Leben beeinflussen.
Dabei lässt Regisseurin Song dem Film viel Platz zum Atmen und nimmt sich etwa die Zeit, die Lichtveränderung auf einem im Wind wehenden Vorhang zu zeigen. Das Publikum bekommt die Möglichkeit, diese poetischen Leerstellen selbst zu befüllen. Die visuelle Gestaltung des Films ist arbeit dabei mit simplen Mitteln. Die Kamerabewegungen sind sanft wie die Annäherung der Figuren, die agierenden Menschen werden gemeinsam mit Licht und Schatten zu ausdrucksstarken Bildern arrangiert.
Was "Past Lives" von anderen Filmen über vergangene Existenzen abhebt, ist seine subtile Herangehensweise an das Thema. Statt sich auf übernatürliche Elemente zu verlassen, konzentriert sich der Film auf die emotionale Reise der Charaktere. Er erforscht Themen wie Liebe, Verlust und Wiedervereinigung auf eine Weise, die den Zuschauer zum Nachdenken anregt und ihn nach dem Abspann über die eigenen vergangenen oder möglichen Leben sinnieren lässt.
"Hätten wir uns getroffen, wären wir ein Paar geworden? Hätten wir uns dann getrennt? Hätten wir geheiratet?" Diese Fragen stellen sich Nora und Hae Sung nachts an der Bar und für einen Augenblick scheint der Ehemann vergessen, der daneben sitzt und vertrauensvoll lächelnd Erdnüsse knackt. Die offen gezeigteVerletzlichkeit der männlichen Figuren ist wohltuend.
Insgesamt ist "Past Lives" ein beeindruckender Film, der mit Leidenschaft und Raffinesse gemacht wurde. Celine Song beweist mit diesem Erstlingswerk ihr Talent als Regisseurin und erzählt eine Geschichte, die das Publikum berührt und zum Nachdenken anregt. Wer auf der Suche nach einem emotionalen, visuell beeindruckenden Film ist, der sehr genau auf das Leben blickt, sollte sich "Past Lives" nicht entgehen lassen.