Fremder, was ich sage, ist wenig, bleib stehen und lies es*

27. Oktober 2010 Rosemarie Schmitt
Bildteil

(* dies ist die erste Zeile einer Grabinschrift aus dem 2. Jahrhundert vor Christus). Was für eine merkwürdige Idee, die der Komponist Evan Chambers da hatte! Besonders passend in diese Zeit, wo sich der oft so goldene Oktober dem Ende nähert, um vom grauen November abgelöst zu werden. November, der Monat des Jahres, in dem die meisten Selbsttötungen stattfinden, der Monat des Jahres, in dem die Menschen Gräber schmücken und zu den Friedhöfen wandern.

Wußten Sie, daß die Bezeichnung Friedhof, bevor die Ableitung Friedenshof sich als Wortherkunft durchsetzte, ursprünglich der "eingefriedete Hof" bedeutete? Aber dies nur nebenbei, denn ich wollte Ihnen von der merkwürdigen Idee des Evan Chambers berichten. Die Inspiration dazu kam ihm sicherlich bei einem seiner zahlreichen Friedhofsbesuche. Er mag Friedhöfe. Dort empfindet er eine ganz besondere Art des Friedens und der Ruhe. Diese Besuche haben ganz gewiß nichts Absonderliches, das heißt, hatten nichts Absonderliches, bis Chambers begann, die Grabinschriften nicht nur zu lesen, sondern diese auch noch zu singen. Wie soll man sich das nun vorstellen? Irre, oder etwa nicht?

Evan Chambers, der 1963 in Alexandria (Louisiana) geboren wurde, ist durchaus ein ernstzunehmender Komponist. Der Amerikaner unterrichtet sogar Komposition an der University of Michigan, eine Tatsache, die jedoch absonderliche Inspirationen keineswegs ausschließt.

Haben Sie schon einmal ganz bewußt auf die Inschriften der Grabsteine geachtet? Was wurde da in den Stein gemeißelt außer dem Namen, das Geburts-und Sterbedatum des Verstorbenen? Bei meinen Recherchen fand ich Informationen zu alten römischen Grabinschriften.

Zum Beispiel jene Inschrift (ursprünglich natürlich in klassischem Latein): Lucius Sulpicius, Sohn des Quintus, Enkel des Quintus, aus der Tribus Collina liegt hier. Jener war nach Meinung vieler Verwandter und Nahestehender rechtschaffen. Nun ja, wenigsten waren sie ehrlich und schrieben ausdrücklich vieler Verwandter, statt aller.

Hier die Inschrift im Grabstein eines Viehhändlers, der seine Lebenspartnerin hinterließ: Quintus Bruitus, Sohn des Publius aus der Tribus Quirina, zu Lebzeiten Viehhändler auf dem Marsfeld, liegt hier, rechschaffen, ehrenhaft, allen angenehm. Brutia Rufa, die Freigelassene des Quintus gefiel als rechtschaffene dem Patron, solange er lebte. Ja, solche Dinge waren damals eben wichtig genug, in Stein gemeißelt zu werden.

Die Inschrift für eine adlige, im 2. Jahrhundert vor Christus verstorbene Frau: Fremder, was ich sage, ist wenig, bleib stehen und lies es. Hier ist das wenig schöne Grab einer schönen Frau. Die Eltern nannten sie Claudia. Sie liebte ihren Ehemann von ganzem Herzen. Sie gebar ihm zwei Söhne, von denen sie den einen auf der Erde zurücklässt, den anderen unter die Erde legt. Sie war von heiterem Gespräch, besonders aber von angemessenem Gang. Sie bewahrte das Haus und spann die Wolle. Ich habe gesprochen. Geh weiter.

Dies sind jedoch nicht die Texte, zu denen Chambers die Musik komponierte. Soweit ich dem Beiheft der CD entnehmen konnte (denn mein Englisch ist nicht perfekt), läßt Evan Chambers die Inschriften einiger Grabsteine singen, die er auf dem Friedhof von Jaffrey, einer amerikanischen Kleinstadt in New Hampshire, fand. Es handelt sich um die Gräber von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die zu Beginn des 19.Jahrhunderts starben.

Die Texte der Inschriften werden unter anderem von dem Folksänger Tim Eriksen, der Sopranistin Anne-Carolyn Bird, dem Tenor Nicholas Phan oder der in Dublin geborenen Paula Meehan (eine Stimme, die mich außerordentlich berührte) vorgetragen. In dieser Musik werden Sie ebenso traditionelle irische, wie amerikanische, oder auch albanisch-polyphone Einflüsse wiederfinden. Die Kompositionen Chambers sind ohne Zweifel in demselben Maße außergewöhnlich wie seine Idee zu dem Projekt, das unter dem Titel "The Old Burying Ground" (Der alte Friedhof) bei dem Label Dorian (Vertrieb: Naxos) als CD veröffentlicht wurde. Mögen Sie originelle, klassische Musik und lassen sich auch gerne mal auf Außergewöhnliches ein?

Am kommenden Montag ist "Allerheiligen", eines der Hochfeste der römisch-katholischen Kirche. Unzählige Menschen werden, wie in jedem Jahr, zu diesem Anlaß vor den Gräbern ihrer Angehörigen stehen, die Inschriften anstarren ohne zu wissen, was hinter diesen in Stein gemeißelten Worten steht. Werden beten, der Geistliche möge sich doch etwas beeilen, an die bereits festlich gedeckte Kaffeetafel zu Hause denken und daran, daß die Schlagsahne zur Torte noch angerührt werden muß.

(...) Ich habe gesprochen. Geh weiter.

Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt