Freizügig, gewalttätig, schonungslos offen: Pre-Code-Hollywood

Das klassische Hollywood-Kino ist bekannt für seine Zurückhaltung in der Darstellung von Sex und Gewalt. Doch zwischen Beginn der Tonfilmzeit 1928 und Inkrafttreten des Hays-Code 1934 gab es eine kurze Phase großer Freiheit. Unter dem Titel "Let´s Misbehave!" rufen Filmreihen im Filmpodium Zürich und im Berliner Kino Arsenal diese fast vergessene, aber aufregende Periode des amerikanischen Kinos in Erinnerung.

Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte nicht nur den Sturz der alten Ordnung in Europa und eine völlige Neugestaltung speziell der europäischen Staatenlandschaft, sondern auch einen gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch. Frauen konnten durch die Arbeit an der Heimatfront ihre Position stärken und erkämpften in vielen Staaten das Wahlrecht.

Die fortschreitende Urbanisierung, die Mobilisierung und die Elektrifizierung veränderten auch das Freizeitverhalten. Schnell und dynamisch wurde das Großstadtleben. Jazz und Charleston gaben den Rhythmus vor, die Nacht wurde zum Tag gemacht, Bühnenshows begeisterten das Publikum: "The Roaring Twenties" pulsierten, bis mit dem Börsenkrach vom 24. 10. 1929 dieser freizügige und hedonistische Tanz auf dem Vulkan abrupt abbrach.

Auch in Hollywood erkannte man, dass man Erfolg hat, wenn man am Puls der Zeit ist, die gesellschaftlichen Entwicklungen spiegelt, das exzessive Leben, aber auch das Verbrechen auf die Leinwand bringt. Der Gangsterfilm und das Musical sind zwei der Genres, die die frühe Tonfilmzeit hervorbrachte.

Drastisch zeigten Howard Hawks in "Scarface" (1932) und William A. Wellman in "The Public Enemy" (1931) den Aufstieg ihrer Gangster, die sich an realen Vorbildern orientierten. Unvorstellbar, dass James Cagney wie hier noch in " The Public Enemy" in einer späteren Hollywoodproduktion seiner Freundin mit einer Grapefruit das Maul stopft, um ihren Redefluss zu stoppen. Nur leicht bekleidete Girls kann man dagegen in den aufwändig choreographierten Tanzszenen der Musicals von Busby Berkeley sehen.

Gleichzeitig war in Kansas aber das Trinken auf der Leinwand verboten und in Pennsylvania durfte keine Schwangerschaft im Bild erscheinen. Einen Code, um die "Sittenlosigkeit" der Filmindustrie einzudämmen, gab es zwar schon seit 1930, doch war dieser nicht verbindlich, sondern nur eine Empfehlung für die Filmstudios, an die sich diese aus kommerziellen Gründen aber kaum hielten.

Hinter diesem Code stand die 1922 gegründete Motion Picture Producers and Distributors of America (MPPDA), die Will Hays, der sehr gute Kontakte zur Politik hatte, als ihren Vorsitzenden einsetzte. Erst auf Bestreben der Catholic League of Decency, bei der auch die Rivalität zu den zahlreichen jüdischen Studiobossen und zum Presbyterianer Hays eine Rolle spielte, erhielt der "Production Code" oder "Hays Code" am 13. Juni 1934 verbindliche Kraft.

Bis 1967 blieb diese Zensurregelung in Kraft, die die Darstellung von Nacktheit ebenso verbot wie Küsse, die länger als drei Sekunden dauern oder dass Mann und Frau – selbst wenn sie verheiratet sind – in einem Bett schlafen. Nur mit inszenatorischen Tricks wie beispielsweise in der Rock Hudson-Doris Day-Komödie "Pillow Talk" (1959) mit Split-Screen konnte man diese Beschränkungen umgehen.

Um wie viel befreiter konnte da das Hollywood-Kino in den Jahren zwischen 1928 und 1934 mit Sexualität umgehen. So zeigen "Baby Face" (Alfred E. Green, 1933) und "Red Headed Woman" (Jack Conway, 1932) ziemlich eindeutig, wie sich ihre Protagogonistinnen nach oben schlafen. Mehr eindeutig als doppeldeutig antwortet Barbara Stanwyck in "Baby Face" bei einem Vorstellungsgespräch in einer Bank auf die Frage, ob sie Erfahrung habe, mit einem anzüglichen Lächeln "plenty". Und auch der Werbeslogan für diesen Film ist eindeutig: "She climbs the ladder of success - Man by Man."

Skrupellos setzen die Protagonistinnen ihre weiblichen Reize ein, um nach oben zu kommen, prostituieren sich oder versuchen aus rein finanziellen Interessen einen reichen Mann zu angeln. Und offen spielt Mervyn LeRoy im Musical "Gold Diggers of 1933" (Choreografie: Busby Berkeley) mit der Macht und der Gier nach Geld, wenn Girls in Kostümen aus Dollarnoten um das Goldene Kalb des Kapitalismus tanzen und Ginger Rogers "We are in the Money" singt.

Auch die Dialoge ließen an Offenheit keine Wünsche offen: In "The Easiest Way" (Jack Conway, 1931) erklärt ein Model der Protagonistin "The easiest way to luxury is horizontally", in "Design for Living" (Ernst Lubitsch, 1933) fällt mehrfach das Wort "fuck". Gespickt mit sexuellen Anspielungen sind schließlich die Komödien mit Mae West und Jean Harlow.

Themen wie Homosexualität, Vergewaltigung und Prostitution wurden behandelt, am Puls der Zeit waren Filme wie "Employees´ Entrance" (Roy del Ruth, 1933) in dem ein eiskalter Kapitalist freimütig bekennt "My code is smash or be smashed" oder "Night Nurse" (William A. Wellman, 1931), in dessen Mittelpunkt eine Alkoholikerin steht, die ihre Kinder vernachlässigt.

Schonungslos kritisiert Mervyn LeRoy in "I Am a Fugitive from a Chain Gang" (1932) den brutalen Strafvollzug und bewirkte tatsächlich eine Milderung der Zustände, während William A. Wellman in "Wild Boys of the Road" (1933) von zwei Jugendlichen erzählt, die keinen Job finden und schließlich betteln müssen, um zu überleben.

Doch nicht nur als inhaltlich freizügiger, sondern auch als formal wagemutiger gelten viele Filme aus dieser Zeit des frühen Hollywood, die lange Zeit kaum beachtet und erst in den letzten Jahren wiederentdeckt wurden. Andererseits gibt es allerdings auch die Meinung, dass gerade die Zensur zu einer künstlerischen Verfeinerung führte.

"We are in the Money" aus "Gold Diggers of 1933"