Der Amerikaner Matthew Barney gehört gegenwärtig zu den großen Grenzgängern zwischen Bildender Kunst und Film. Mit dem monumentalen fünfteiligen "Cremaster Cycle" und "Drawing Restraint 9" schuf er herausragende Filmkunstwerke von suggestiver Kraft. Das Filmpodium Zürich widmet dem 1967 geborenen Barney im Juni eine Retrospektive.
Seit den Anfängen der Filmgeschichte gibt es Wechselbeziehungen zwischen Bildender Kunst und Film. Man denke nur an Luis Bunuels und Salvador Dalis surrealistischen Kurzfilme "Un chien andalou" (1928) und "L´age d´or" (1930) oder Fernand Légers avantgardistischen "Le ballet mèchanique" (1924). Experimentierten in früheren Jahrzehnten aber eher vereinzelt Maler und Bildhauer mit dem neuen Medium, so sind Crossovers in den letzten 15 Jahren häufiger geworden.
Für den 1967 in Idaho geborenen Matthew Barney ist laut eigener Aussage (1) das Werk des 1986 verstorbenen Joseph Beuys prägend, denn das narrative Moment, das die Werke von Beuys kennzeichne, habe es in der damaligen amerikanischen Kunst nicht gegeben. Mit Beuys verbindet ihn aber auch die Körperlichkeit, die bei Barney aus seinem jugendlichen Interesse an Football und Wrestling resultiert.
Diese Körperlichkeit kommt im fünfteiligen "Cremaster Cycle" zu dem nicht nur die Filme, sondern auch Zeichnungen, Photographien und Skulpturen gehören, schon im Titel zum Ausdruck: "Musculus cremaster" ist die lateinische Bezeichnung für den Hodenheber, der zur Thermoregulation dient. Die Bewegung der Hoden, das Ursymbol in Barneys mythologischer Konstellation, da ihre Entwicklung eine zentrale Rolle bei der Ausbildung der Geschlechtlichkeit während des Embryonalstadiums spielt(2), verweist auf den Konflikt einer pränatalen Entwicklung, der im Zentrum des Filmzyklus steht(3). Transgressionen, das Verschwimmen der Geschlechtergrenzen, der Zeitebenen und der Wandel von fester zu flüssiger Materie sowie umgekehrt bestimmt Barneys Werk, wobei Psychoanalyse, Biologie und Mythos zu einer mehrdeutigen Motivstruktur verwoben werden(4).
Ausgangspunkt der einzelnen Filme, die nicht in der Reihenfolge ihrer Teile zwischen 1994 und 2002 entstanden und zwischen 41 und 180 Minuten lang sind, sind aber jeweils die Schauplätze. Der Bogen spannt sich von der Heimat des Künstlers über die Isle of Man, Chicago und Budapest bis zum Chrysler-Building in New York. Der zeitliche Rahmen wiederum erstreckt sich von den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts (Geburt des Entfesselungskünstlers Harry Houdini) bis zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (Hinrichtung Gary Gilmores) und schließt eine Fülle anachronistischer Momente ein(5).
Aus dem Raum heraus und dem Zusammentreffen der lokalen Mythologien mit Barneys eigener Gedankenwelt entwickelt sich die Narration und das Mischen der Dinge ist der Beginn der Geschichte, wobei wiederum vielfältig auf die Filmgeschichte Bezug genommen wird. So kommt "Cremaster 1" (1995), der im Football-Stadion von Barneys Heimatstadt Boise/Idaho aufgenommen wurde, als überzuckerte Revue im Stil der Busby Berkeley-Musicals der 1930er Jahre daher. Andererseits ist dieses „Musical einer embryonalen Plänkelei“ aber auch von Leni Riefenstahls Inszenierung nationalsozialistischer Sportparaden beeinflusst(6).
"Cremaster 2" (1999) wird dagegen als Schauer-Western dargeboten: Auf die Gerichtsverhandlung gegen den Mörder Gary Gilmore, die Barney im Chor des Mormonen-Tabernakels in Salt Lake City inszenierte, folgt die als Rodeo angelegte Hinrichtung.
Im Zentrum des Zyklus steht "Cremaster 3" (2002), der wie ein doppelter Spiegel wirkt, der wiedergibt, was vorher geschehen ist, und vorwegnimmt, was folgen wird(7). Eingepackt in eine Rahmenhandlung, in der die mythologische Entstehung der Isle of Man erzählt wird, steht im Hauptteil des Films der Bau des Chrysler-Building in New York, in dessen Innern es zum Konflikt zwischen einem Meister (Richard Serra) und einem neu aufgenommenen Lehrling (Matthew Barney) kommt. Der Film, der sich als Zombie-/Gangsterfilm präsentiert, folgt ihrem Aufstieg im Turm, in dessen Verlauf der Meister die Freimaurerlegende nachspielt und der Lehrling durch Initiationsriten sukzessive selbst zum Meister aufsteigt.
"Roadmovie mit einem Schuss Fred Astaire"(8) ist "Cremaster 4" (1994), der auf der Isle of Man spielt und die dortige Folklore sowie das Tourist-Trophy-Motorradrennen integriert. Und der abschließende "Cremaster 5" (1997), der im Budapest des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielt, ist als Oper konzipiert und wird als tragische Liebesgeschichte dargeboten.
Was die fünf Filme, die insgesamt nicht mehr als etwa zehn Dialogzeilen enthalten, verbindet, ist die Kreisstruktur und das Motiv der Suche. Mit letzterem und den wiederkehrenden Vater-Sohn / Meister-Schüler-Beziehungen greift "Barney zwar die Ödipus-Legende auf, aber nur um ihren Gehalt ins Gegenteil zu kehren"(9). Der Grundton ist zutiefst antiödipal und in seiner sphärischen Assoziationskette übt der „Cremaster Cycle“ den unablässigen Zusammenbruch der sexuellen Differenz.(10)
"Drawing Restraint 9" bildet das neunte Werk eines bereits 1987 von Matthew Barney begonnenen multimedialen Kunstprojekts. Spielend auf einem japanischen Walfangschiff als einzigem Schauplatz erzählt der 135minütige Film, der nur einen einzigen Dialog aufweist, die tragisch endende Liebesgeschichte zwischen einem amerikanischen und einem europäischen Gast, die von Barney selbst und seiner Lebensgefährtin, der isländischen Sängerin Björk, die auch die von japanischen Klängen inspirierte Filmmusik komponierte, gespielt werden. Mit an Bord auf der Fahrt in antarktische Gewässer ist in eine offene Form, gegossene flüssige Vaseline, die sich langsam abkühlt, verfestigt und schließlich aus ihrer Gussform befreit wird. Indem dabei die gleichen Methoden und Werkzeuge wie sonst bei der Verarbeitung von Walen Anwendung finden, wirft dieser schon mehrfach als "Horror-Öko-Musical" bezeichnete opulente Bilderrausch, der sich auf ewige Themen wie Liebe und Tod, archaische Mythen und die moderne Kunst wie die Fettinstallationen von Joseph Beuys bezieht, auch Fragen nach dem Naturverhältnis der Moderne auf. – Antworten wie im kommerziellen Kino darf man von Matthew Barney freilich nicht erwarten.
Fußnoten:
(1) Matthew Barney im Interview mit Winfried Nussbaummüller (23.5.2007)
(2) Barney Mattew / Spector, Nancy, The Cremaster Cycle. Katalog zur Ausstellung im Museum Ludwig, Köln, 2002, im Musee d" Art Moderne de la Ville de Paris, 2002/3, im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 2003. Ostfildern (Hatje Cantz), 2002, S. 13
(3) http://de.wikipedia.org/wiki/Matthew_Barney#The_Cremaster_Cycle_.281994-... (27.5.2007)
(4) Barney Mattew / Spector, Nancy, The Cremaster Cycle. Katalog zur Ausstellung im Museum Ludwig, Köln, 2002, im Musee d" Art Moderne de la Ville de Paris, 2002/3, im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 2003. Ostfildern (Hatje Cantz), 2002, S. 25
(5) Ebd. S. 76
(6) Ebd., S.77
(7) http://www.museenkoeln.de/ausstellungen/mlu_0209_barney/dtcr3.asp (27.5.2007)
(8) Barney Mattew / Spector, Nancy, The Cremaster Cycle. Katalog zur Ausstellung im Museum Ludwig, Köln, 2002, im Musee d" Art Moderne de la Ville de Paris, 2002/3, im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 2003. Ostfildern (Hatje Cantz), 2002, S. 78
(9) Ebd. S. 81
(10) Ebd. S.82
Trailer zu "Cremaster Cycle"