Fahrraddiebe

28. Februar 2019 Walter Gasperi
Bildteil

Endlich hat der arbeitslose Antonio einen Job als Plakatkleber gefunden, doch schon am ersten Arbeitstag wird sein Fahrrad gestohlen. Bei Pidax Film ist Vittorio De Sicas Meisterwerk, das als geradezu prototypischer Film des Neorealismus gilt, in digital restaurierter Fassung auf Blu-ray und DVD erschienen.

Ein Bus nähert sich einem großen Gebäude, Männer strömen aus dem Fahrzeug, warten gespannt auf der Treppe des Gebäudes, während ein Beamter vorliest, welche Jobs zu vergeben sind. Für Antonio hätte er den Job eines Privatklebers, doch der Familienvater sitzt etwas abseits und muss erst von einem Freund geholt werden.

Sichtlich erfreut ist Antonio, dass er endlich eine Arbeit bekommen soll, doch schon stellt sich ein Problem ein, denn ihm fehlt das dazu nötige Fahrrad. Sofort bemühen sich zehn andere um den Job, aber Antonio verspricht, dass er mit einem Fahrrad, bei der Arbeitsstelle erscheinen wird.

Wie Vittorio De Sica und sein Drehbuchautor Cesare Zavattini in dieser Auftaktszene das Individuum aus der Masse herauslösen und deutlich machen, dass das Einzelschicksal für viele Schicksale steht, werden sie immer wieder Individuum und Gesellschaft gegenüberstellen und Antonio schließlich auch wieder mit seinem etwa achtjährigen Sohn Bruno in der anonymen Masse verschwinden lassen.

Zum prototypischen Film des Neorealismus wird der 1948 gedrehte "Fahrraddiebe" dadurch, dass die Geschichte einfach und klein gehalten ist und dass andererseits durch den Dreh an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern die Realität ungeschminkt und quasidokumentarisch einfließt.

Allein durch eine Abfolge kleiner Szenen und Begegnungen zeichnen De Sica und Zavattini ein Bild der Not im Nachkriegsitalien, erzählen aber gleichzeitig auch bewegend von der Gleichgültigkeit der modernen urbanen Gesellschaft gegenüber dem Schicksal des Einzelnen, von großen gesellschaftlichen Gegensätzen und schließlich auch eine Vater-Sohn-Geschichte.

Um sich das Fahrrad, das Antonio ins Pfandhaus gebracht hat, zurückzubekommen, verpfändet seine Frau Maria die Bettwäsche. Auch hier verweist das Einzelschicksal auf die Lage vieler, wenn die verpfändete Bettwäsche in einem hohen Regal zwischen vielen anderen Bettwäschen abgelegt wird.

Die gesellschaftliche Kluft kommt aber auch sogleich bei Antonios Arbeit zum Ausdruck, wenn er ausgerechnet ein Plakat von Rita Hayworth, das Glamour, Reichtum und Luxusleben verspricht, aufkleben muss. Als sein an der Mauer lehnendes Fahrrad gestohlen wird, verfolgt er den Dieb, kann ihn aber nicht einholen, da die Menschenmassen auf seine Rufe, ihm zu helfen und den Dieb zu stoppen, nicht reagieren.

Wenig Hilfe erhält er auch von der Polizei, die den Diebstahl zwar aufnimmt, ihn aber als Bagatelle abtut, da ja täglich zahllose Fahrräder gestohlen würden. Nicht zuletzt aus diesem Widerspruch zwischen dem objektiv gesehen banalen und kleinen Verlust und der subjektiv gesehen existentiellen Krise, die der Diebstahl auslöst, entwickelt "Fahrraddiebe" seine Spannung und bewegende emotionale Kraft.

Mit Freunden und seinem Sohn Bruno macht sich Antonio am nächsten Morgen auf dem Fahrradmarkt auf die Suche nach dem gestohlenen Rad, doch bald müssen sie angesichts der vielen Räder erkennen, dass sie keinen Erfolg haben werden.

Zunehmend rückt nun die Vater-Sohn-Beziehung in den Mittelpunkt. Während sie gemeinsam auf der Suche nach dem Rad durch die Stadt streifen, wird Antonio immer frustrierter und aggressiver, schlägt Bruno einmal auf die Backe oder nimmt ihn gar nicht mehr wahr, wenn sie eine viel befahrene Straße überqueren. Gingen sie zunächst nah nebeneinander, so macht nun auch die räumliche Distanz das emotionale Auseinanderdriften erfahrbar.

Ohne es besonders zu betonen, machen De Sica und Zavattini so auch erfahrbar, wie die materielle Not sich auf persönliche Beziehungen auswirkt und sie belastet. Erst als ein Kind im Tiber zu ertrinken droht und Antonio befürchtet, dass es sich um Bruno handelt, erkennt er, dass sein Sohn letztlich das ist, was für ihn wirklich wichtig ist. Gemeinsam gönnen sie sich ein Mahl im Restaurant, bei dem der Blick auf einen am anderen Tisch sitzenden nobel gekleideten Jungen wieder die Klassengegensätze deutlich macht.

Kritik wird auch an der Kirche geübt, wenn gegen ein Messbesuch ein Mittagessen ausgegeben wird, viel gebetet und gesungen wird, aber dem Notleidenden in seiner konkreten Situation so wenig geholfen wird wie von einer Wahrsagerin. Während sich Antonio am Beginn des Films noch über diese lustig macht, als seine Frau sie aufsucht, holt er sich nun selbst eine Prophezeiung ein, die freilich ziemlich nichtssagend ausfällt.

Und als Antonio schließlich den Dieb überraschenderweise doch findet, wird dieser nicht nur von seiner Umgebung gedeckt, sondern Antonio muss auch erkennen, dass es diesem noch schlechter geht als ihm selbst, er in noch armseligeren Verhältnissen lebt.
Wie dieser junge Mann wird so Antonio schließlich aus Not selbst zum Dieb, wird aber erwischt und von den Menschen beschimpft, während sich Bruno, der entsetzt die Tat des Vaters und dessen Beschimpfung verfolgt, sich ihm wieder nähert und die Hand reicht.

Nichts hat "Fahrraddiebe" seit seiner Premiere vor 71 Jahren dank seines genauen Blicks für die Realität und der Empathie für die Schwachen von seiner emotionalen Kraft verloren. Immer noch muss man bewundern, wie De Sica/Zavattini anhand dieser einfachen und geradlinig erzählten Geschichte ein treffendes Bild der italienischen Nachkriegsgesellschaft zeichnen und wie sie Privates und Gesellschaftliches mit leichter Hand verknüpfen. Auch in seiner humanistischen Haltung ist dies zweifellos ein zeitloses Meisterwerk der Filmgeschichte.

An Sprachversionen bieten die bei Pidax Film erschienene Blu-ray und DVD die italienische Original- und die deutsche Synchronfassung, aber leider keine Untertitel. Die Extras umfassen neben dem Trailer jeweils rund einstündige Dokumentationen über Vittorio De Sica und Cesare Zavattini sowie ein rund 20-minütiges Feature, in dem sich Mitarbeiter de Sicas über die Zusammenarbeit mit dem 1974 verstorbenen Regisseur äußern.

Trailer zu "Fahrraddiebe"