EU-Recht vs. Schweizer Tradition

6. Mai 2019 Kurt Bracharz
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Halbautomatische Waffen oder Selbstlader laden beim Abfeuern eines Schusses selbst nach, schieben also automatisch eine Patrone aus dem Magazin in den Lauf; jeder neue Schuss muss aber einzeln ausgelöst werden. Bei Vollautomaten kann man hingegen durch eine Betätigung des Abzugs mehrere Schüsse auslösen. Zu Halbautomaten umgebaute Vollautomaten gelten juristisch weiterhin als Vollautomaten. Waffen, die „durch übliche Werkzeuge“ zu Vollautomaten umgebaut werden können, gelten waffenrechtlich als Vollautomaten.

Die EU beriet nach den Terroranschlägen in Paris 2015 über Verschärfungen im EU-Waffenrecht, also über Richtlinien zu Halbautomaten, die in den EU-Staaten umgesetzt werden müssen. Im Dezember 2016 wurden die neuen Regelungen verabschiedet, die seither in nationale Waffengesetze integriert werden müssen. Ein Kompromiss mit den Mitgliedstaaten wurde im März 2017 verabschiedet.

Die Schweiz gehört zwar nicht zur EU, ist aber Mitglied im Schengen/Dublin-Verband und befürchtet, aus diesem ausgeschlossen zu werden, wenn sie ihr Waffengesetz nicht angleicht. Ein Ausschluss von Schengen würde sich auf Asylwesen, Grenzkontrollen und Tourismus negativ auswirken. Nun gibt es in der Schweiz eine besonders starke Tradition von Schützenvereinen, und die Wehrmänner können nach dem Austritt aus der Armee ihre Dienstwaffe mit nach Hause nehmen, was heute nur noch ein Achtel von ihnen tut. 2018 waren es 2287 Sturmgewehre und 821 Pistolen. In der Schweiz gibt es kein zentrales Waffenregister, man schätzt auf 2,4 Millionen Gewehre und Pistolen im Besitz von Zivilpersonen, das wäre jeder dritte Volljährige. Von den über 200 Toten durch Schusswaffen sind die meisten Suizide. Es sind also keine amerikanischen Verhältnisse, wobei es in den USA allerdings auch 121 Waffen pro 100 Personen gibt (in Österreich, das in der Weltstatistik gemeinsam mit Mazedonien an achter Stelle steht, 30 von 100).

Am 19. Mai stimmt die Schweiz über ein verschärftes Waffenrecht ab. Im Zentrum der neuen EU-Vorschriften stehen halbautomatische Gewehre und Pistolen mit Magazinen mit großem Fassungsvermögen. Dazu gehört das Sturmgewehr 90 der Schweizer Armee, das Sportschützen üblicherweise benützen. Als verbotene Waffen sollen halbautomatische Gewehre mit einem Magazin von mehr als zehn Schuss oder Pistolen mit über 20 Schuss gelten. Die Schweizer Gegner der EU-Richtlinien fürchten vor allem, dass es später weitere Einschränkungen geben werde, die sie dann immer mitvollziehen müssten. Für die Verschärfung sind alle Parteien (außer der SVP), Bundesrat und Parlament, Economiesuisse, Schweizerischer Gewerbeverband und Gewerkschaften, dagegen sind SVP, Pro Tell, Jagd Schweiz, die Schweizerische Offiziersgesellschaft und der Schweizer Schießsportverband. Diese Aufzählungen sind nicht vollständig. Pro Tell, in Eigenschreibweise auch PROTELL, der gemeinnützige Verein, der sich nach seinem Dafürhalten „für eine liberale Waffengesetzgebung in der Schweiz“ engagiert, und andere Schützenverbände haben das Referendum am 19. Mai initiiert.

Wilhelm Tells Armbrust war kein Selbstlader, er musste den zweiten, für den Landvogt Gessler bestimmten Pfeil schon selbst in die Hand nehmen. Eine halbautomatische Waffe hätte ihm auch nichts gebracht, die Präzisionsschüsse in den Apfel und später auf den Vogt erforderten eine ruhige Hand. Für die Auseinandersetzung um halbautomatische Waffen wäre vielleicht Richard Jordan Gatling der bessere Patron. Er erfand das Maschinengewehr.