Er wollte sich das Leben nehmen, doch das Leben nahm sich ihn

31. Dezember 2014 Rosemarie Schmitt
Bildteil

Es war im November des Jahres 1877, als jene Variationen uraufgeführt wurden. Am Ende eines sehr ereignisreichen Jahres, in der Tschaikowsky vergebens versuchte, den Erwartungen der Welt gerecht zu werden, der Welt, in der die anderen lebten ...

Musikalisch betrachtet bedeutet eine Variation, dass eine Komposition, ein Thema nacheinander durch vielfältige melodische, harmonische und rhythmische Abwandlungen führt. Darin war Tschaikowsky durchaus ein Meister. Was ihm ungleich schwerer fiel, ja, ihm die wahrscheinlich die größte Sorge seines Lebens gewesen ist, ist die Phänotypische Variation, die die in einer Population auftretenden Unterschiede zwischen den Individuen besagt.

Tschaikowsky unterschied sich etwa darin, dass er nicht die körperliche Nähe des anderen Geschlechtes suchte. Seine Sehnsüchte waren tabu, und es galt sie zu unterdrücken, und zu verschweigen. Er glaubte eine Lösung gefunden zu haben, indem er im Juli 1877 (Tschaikowsky war 37) Antonia Iwanowna Miljukowa heiratete. In meinem Harenberg-Komponistenlexikon ist zu lesen, dass das Glück nur wenige Wochen währte. Das Glück. Welches Glück? Nach drei Monaten flüchtete der Ehemann von Moskau nach Kiew. Er wollte sich das Leben nehmen, doch das Leben nahm sich ihn. Im Herbst erlitt er einen nervlichen Zusammenbruch, doch er lebte und komponierte weiter.

Einzig eine Frau schien er wirklich geliebt zu haben. Ich denke, diese Liebe war nur möglich, weil die beiden sich niemals persönlich begegneten, sich jedoch während Ihrer 13 Jahre währenden Liebe mehr als 1200 Briefe schrieben. Nur schreiben, nicht anfassen. Liebe gibt es in vielen Variationen, lediglich eine von ihnen ist rein körperlicher Natur (im Falle Tschaikowsky von seinen Zeitgenossen als unrein angesehen). Kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember 1877, einen Monat nachdem die Rococo-Variationen erstmals aufgeführt wurden, schrieb er jener Frau die er liebte, es war Nadeshda Philaretowna von Meck, einen Brief aus Venedig. Er arbeitete an der 4. Sinfonie, die er ihr widmete.

"(...) Wie froh bin ich, dass es unsere Sinfonie ist, und dass Sie beim Hören wissen werden, dass ich bei jedem Takt an Sie gedacht habe. Wenn Sie nicht wären, ob ich sie wohl je zu Ende gebracht hätte? In Mokau, als ich dachte, mit mir sei alles zu Ende, habe ich auf den Erstentwurf folgende Inschrift gemacht (...): "Ich wünsche, dass im Falle meines Todes dieses Heft Frau Nadeshda Philaretowna von Meck übergeben werde". (...)" (Quelle: Anders/Maier "Liebesbriefe großer Männer", Marix-Verlag 2012)

Es war im November 2014, als ich sie hörte, jene Rococo-Variationen in 9 Sätzen für Cello und Orchester von Peter Tschaikowsky. Er widmete jene Variationen seinem Freund und Cellisten Wilhelm Fitzenhagen, der ihn bei der Komposition unterstützte. Auch Fitzenhagens Bearbeitung, die Tschaikowsky ihm ausdrücklich erlaubte, ist auf dieser CD zu hören und zu genießen.

Diese Einspielung von Brilliant-Classics wird dem Namen des Labels zweifelsfrei gerecht, denn sie ist in der Tat brilliant! Sowohl der Cellist István Várdai als auch das Pannon Philharmonic Orchester unter der Leitung von Tibor Bogányi, begeistern und überzeugen durch musikalische Perfektion gepaart mit emotionaler Sensibilität. Als seien sie ein Sprachrohr Tschaikowskys! Perfektion ist durch Fleiß und Ausdauer zu erlangen, die Fähigkeit den niedergeschriebenen Noten die Emotionen des Komponisten zu entlocken, ist eine Gabe, über die zweifellos jener Solist und die Musiker des Orchesters verfügen.

Tschaikowskys Rococo-Variationen sind klingende Träume, Sehnsüchte und Wünsche - Wünsche nach einer Welt in der Respekt, Akzeptanz und Liebe die Feder führen. Mit jener Komposition und den mit ihr verbundenen Wünsche möchte ich Sie in das neue Jahr führen.

Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt