Entschiedenes Bekenntnis zum radikalen Autorenfilm

13. August 2007
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So ein starkes Bekenntnis zum radikalen Autorenfilm wie die Juries beim 60. Filmfestival von Locarno hat Seltenheitswert. Dass der "Goldene Leopard" an den minimalistischen japanischen Film "Ai no yokan – The Rebirth" vergeben wurde, ist eine Sache, dass aber auch noch das vielleicht noch sperrigere Triptychon "Memories" mit dem Spezialpreis der Jury und der experimentelle ungarische Beitrag "Tejùt - Milky Way" im Parallelwettbewerb "Cinéastes du présent" ausgezeichnet wurde, eine andere.

Vergeblich wird man wohl darauf warten, dass einer der in Locarno mit einem der Hauptpreise ausgezeichneten Filme, ins Kino kommt. Kein Verleiher wird den Mut aufbringen diese Filme in sein Programm zu nehmen und so wird man "Ai no yokan - The Rebirth", "Memories" oder "Tejùt – Milky Way" höchstens auf einem anderen Festival oder früher oder später vielleicht auch im Spätprogramm von Arte sehen können.

Radikale Filme wurden in Locarno ausgezeichnet, Filme, die dem Zuschauer ganz bewusst viel zumuten entweder durch Wiederholungen und der Wortlosigkeit ("Ai no yokan"), durch endlos lange, nicht zusammenhängende statische Totalen ("Tejút") oder mit drei getrennten digitalen Experimenten ("Memories"), die Teil des koreanischen "Jeonju Digital Project 2007" sind.

Für dieses Projekt drehten der Deutsche Harun Farocki, der Portugiese Pedro Costa und der Franzose Eugène Green je einen rund 40 minütigen Film zum Thema Erinnerungen. Farocki nimmt in "Respite" tonlose 16mm-Aufnahmen, die ein Insasse des holländischen KZ-Transitlagers Westerbork für den Lagerkommandanten drehte, als Ausgangspunkt um in Zwischentiteln Fragen über den Wahrheitsgehalt der Bilder, Manipulation, Propaganda und Intention aufzuwerfen: Wollte der SS-Offizier mit diesem Film beispielsweise das Lagerleben idyllisieren oder wollten vielmehr die Insassen selbst durch die Demonstration ihrer Arbeitsleistung vor laufender Kamera den Bestand des Lagers sichern und somit ihre Deportation in ein Vernichtungslager verhindern. Gleichzeitig gibt Farocki mit diesem Archivfilm den Opfern des Holocaust auch ein Gesicht, wenn er einen Jungen beim Besteigen eines Deportationszugs zeigt, oder dem Gesicht einer später in Auschwitz ermordeten Frau mittels einer Kofferaufschrift einen Namen zuschreibt.

Eigene Wege beschreitet auch Eugène Green, der von einer jugendlichen e-mail-Liebe erzählt, die Teenager sich aber nie begegnen lässt, sondern nur vorwiegend im Brustbild in ihren kargen Räumen zeigt. Über die poetische, nie direkt, sondern immer nur aus dem Off-gesprochenen Sätze, die Bildgestaltung mit Katze, Tischfuß oder eben Brustbildern sich an der klassischen Malerei orientierend und damit die Kommunikation per e-mail kontrastierend entwickelt sich "Correspondences" zudem zu einem Diskurs über Vergangenheit und Moderne. Erst in der letzten Einstellung bricht der Film mit einem Blick auf die Hausdächer aus dem geschlossenen Raum aus und scheint die virtuelle Beziehung Realität werden zu lassen. Der Portugiese Costa wiederum schildert in der schwächsten Episode dieses Dreiteilers ("The Rabbit Hunters") alten Männern – oder sind es Geister – bei ihrem Alltag zu.

Als Überraschung muss auch die Vergabe des Regiepreises an Philippe Ramos für "Capitaine Achab" angesehen werden. Zwar ist dieses imaginierte Biopic über die Jugend des fiktiven "Moby Dick"-Jägers Kapitän Ahab bestechend fotographiert und auch die Aufteilung in fünf Kapiteln mit jeweils anderem Erzähler überzeugt, doch die Relevanz des Films bleibt letztlich schleierhaft.

Das zweite Jahr unter der Leitung von Frédéric Maire brachte nicht unbedingt einen starken Jahrgang, doch zeichnete sich das Programm immerhin durch eine stärkere Strukturierung aus. Filme – vielleicht doch etwas zu viele amerikanische - fürs große Publikum dominierten das Piazza-Programm, im Wettbewerb wurde konventionelles Arthouse-Kino gepflegt, wobei dann interessanterweise wiederum gerade die Ausreißer in Richtung formaler Radikalität ausgezeichnet wurden, und die Sparte "Cinéastes du present" war heuer vorwiegend den experimentellen Werken vorbehalten. Und doch konnte man gerade hier den vielleicht schönsten Film des Festivals entdecken.

In "Lo Bueno de llorar" ("Das Gute am Weinen") macht der Chilene Matias Bize nichts weiter als einem Paar, das beschlossen hat sich zu trennen, bei einem letzten gemeinsamen Gang durch das nächtliche Barcelona zuzuschauen. Am Beginn sitzen sich der Mann und die Frau in einem Restaurant gegenüber und endlos langsam fährt die Kamera auf sie zu, wortlos stehen sie schließlich auf, verlassen das Lokal verlassen, streifen durch die Straßen bis zu einer U-Bahnstation, wobei sie die Kamera ruhig im Rücken und manchmal auch von vorne begleitet. Nur einmal schweift der Kamerablick für einen Moment, folgt einem anderen Paar, das über ein Kind, das in seiner Mitte geht, verbunden ist. Später nach kurzen Gesprächen mit Freunden, nach einem Tränenausbruch in einer Disco, einer Auseinandersetzung mit einem Hausbewohner, dessen Auto beschädigt wurde, wird das Paar in einem Supermarkt darauf zu sprechen kommen, ob denn ein Kind ihre Beziehung gerettet hätte und die Frau wird dem Mann quälend lang ein Geheimnis erzählen.

Kaum mehr als dieses Paar gibt es während 80 Minuten zu sehen, nicht mehr als sein Gehen und Stehen, sein Reden und vor allem sein Schweigen, traurig weniger darüber, dass ihre Beziehung gescheitert ist, als vielmehr darüber, dass der Mann und die Frau sich ihr Scheitern selbst nicht erklären können. Wie Bize diese Stimmung freilich durch Licht und Farben, durch eine Unzahl von Blautönen vermittelt, wie er dieses Paar von der Dunkelheit langsam wieder ins Licht spazieren lässt und am Ende wieder alles offen lässt, ja sogar einen Hoffnungsschimmer setzt, das zeichnet diesen 28jährigen Chilenen jetzt schon als großen Filmemacher aus.