Eine unaufhörliche Annäherung an sich selbst

Auf der "Buch Wien" hätte ich Bastian Schneider gerne getroffen, hoffte auf eine Lesung, er sei aber nicht da, sagte mir Sonder. Ich vermute, er ist wohl noch immer untergetaucht.

Das Buch beginnt mit: "Künstlerstipendium Istanbul an Bastian Schneider vergeben" und der offiziellen Begründung warum. Und schon ist man mitten drinnen, in den eskalierenden Ereignissen beim Einchecken ins Hotel. Ein Doppelgänger hat dies bereits unter dem Namen Bastian Schneider getan, Schüsse fallen schon auf der dritten Seite, der mutmaßliche Terrorist wird in der Hotelhalle verhaftet. Kaum zur Ruhe gekommen, wird Bastian Schneider von Sonder – dem Verleger, Sonderzahl – angerufen und auf einen literarischen Doppelgänger hingewiesen. Also begibt er sich auf die Suche nach dem spanischen Schriftsteller Enrique Vila-Matas, der offenbar seine Identität strittig macht. Im Urban Café lernt Bastian dann den Verleger Orhan kennen, der die Istanbul-Stadterkundungen gleich in seinem gerade gegründeten Brotverlag (jedes Buch ein Unikat mit Umschlag von verschiedenen Bäckereitüten) veröffentlichen will: "Die aus der Bierlaune heraus entstandene Schnapsidee vom ersten Buch in Orhans Verlag hat sich zu einem ernsten Unterfangen entwickelt ...". Spannend und straff schildert Schneider absurde Szenen, Zwischenfälle, Beobachtungen, die immer konkreter werden, je verwirrender sie sind. Auf alles darf man gefasst sein, und dann ist es ganz anders oder doch harmlos. Wunderbar!

"Es müsste schon ein sehr kurzer Roman sein, mit möglichst wenig Handlung, wenigen Figuren und keiner Psychologie, damit ich beim Schreiben bis zum Ende durchhalte." Beruht der erste Teil des Romans auf wahrheitsgemäß wiedergegebenen Ereignissen – wie versichert wird –, bleibt im zweiten Teil dem Änderungsschneider Flaus Fadnisain im kleinen Laden in der Rue Pascal, Paris, zum Überleben nichts, als den Roman selber fertig zu schreiben. Im Mantel des verschwundenen Bastian Schneider – dieser hatte ein Loch in der Innentasche und wurde nicht mehr abgeholt – folgt er dessen Spuren nach Istanbul, ins Urban Café, zum Mützenmacher und sogar nach Wien ins Büro von Sonderzahl. Die Begebenheiten und Wirklichkeitsschichten werden noch skurriler und im selben Maße entsteht eine verblüffende Realität. "Ich will nicht die großen Themen der Weltliteratur nacherzählen, sondern das Nicht-Romanhafte ins Recht setzen, erzählt zu werden, den kleinen Splitter Wirklichkeit, den ich dann mittels meiner Sprache bis zur Kenntlichkeit entstelle. Jedenfalls habe ich das in meinen Büchern bisher versucht. Deswegen auch diese Vorliebe fürs Groteske, für Kippbilder, die immer beides liefern müssen – eine schöne Oberfläche und den Abgrund dahinter."

Zur Einstimmung hat mir Sonder vor einigen Monaten das Büchlein mit Geschichtchen von Bastian Schneider mitgegeben. Paris im Titel. Vehemente Empfehlung zum Weiterlesen! Schallendes Auflachen garantiert, wenn zum Beispiel in "Kauderwelsch oder vom Baldowern" nachvollzogen wird, welches Missverständnis zum markanten Logo der Piratenflaggen geführt haben könnte – auch hier spielt der Schneider eine Rolle.

Bastian Schneider. Das Loch in der Innentasche meines Mantels
168 Seiten,13,5 x 21 cm, gebunden
Sonderzahl, Oktober 2022
ISBN 978-3-85449-606-9