Eine schädliche Phantasie

25. März 2013 Kurt Bracharz
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Warum bekommt man heute in Deutschland, Österreich und in der Schweiz in über 90 Prozent der Fälle einen Haufen grünen Salat oder auch unangemachte Rauke auf dem Fleisch vorgesetzt, wenn man ein Carpaccio bestellt hat? In Lindau stand einmal sogar ausdrücklich "Carpaccio di Cipriani" auf der Speisekarte, und dann gab’s doch wieder eine Fuhre Blattsalat auf dem Rindsfilet, von der sich Giuseppe Cipriani mit Grausen abgewandt hätte.

Der Grund dafür liegt vermutlich in zwei ebenso weitverbreiteten wie blödsinnigen Ansichten, nämlich der, dass Salat per se gesund sei, und jener, dass für "rotes" Fleisch das Gegenteil gelte. Oder sollen einfach nur die Fleischtiger mit Grünfutter bestraft werden? Oder der Gourmet mit dem im (meist minderwertigen) Salatessig liegenden Fleisch vergrätzt?

Giuseppes Sohn Arrigo Cipriani hat in dem Buch "Harry’s Bar" (deutsche Ausgabe München 1997) einmal mehr festgehalten, wie das Original zubereitet wurde: "Das echte Carpaccio, das mein Vater erfunden hat, besteht aus hauchdünnen Scheiben von rohem Rindfleisch, die auf einem Teller ausgebreitet und à la Kandinsky mit unserer Universalsauce garniert sind." Und das Rezept für "etwa ¼ Liter" der "Salsa Carpaccio" gibt er so an: "185 ml Mayonnaise, 1 – 2 Teelöffel Worcestershiresauce, 1 TL frisch gepresster Zitronensaft, 2 – 3 EL Milch, Salz, frisch gemahlener weißer Pfeffer. Die Mayonnaise in eine Schüssel geben und mit der Worcestershiresauce sowie den Zitronensaft vermischen. Mit etwas Milch verdünnen, damit die Sauce gerade den Löffelrücken überzieht. Die Sauce mit Salz, frisch gemahlenem weißem Pfeffer, Worcestershiresauce oder Zitronensaft abschmecken." (a.a.O., S. 200)

In Gerd Wolfgang Sievers Buch "Rind & Co. Alles rund ums Rindfleisch" (Wien 2009) ist dieses Rezept lediglich um detaillierte Angaben zur Mayonnaise und um "ein paar Tropfen Tabasco (fakultativ)" erweitert, und statt "à la Kandinsky" heißt es "in einem unregelmäßigen Gittermuster über das Fleisch träufeln".

Wenn man kein "di Cipriani" dazu setzt, kann man natürlich aufs Fleisch geben, wonach einem der Sinn steht. Mir schmeckt eine allerdings quantitativ sehr bescheidene Garnierung mit Parmesanspänen, gescheibelten rohen Champignons und – ja, Rucola!, aber maximal zwei klein zerteilte Blätter – am besten, dazu ganz wenig Zitrone und etwas mehr vom besten Olivenöl. Und frisch geriebener Pfeffer, der nicht unbedingt weiß sein muss (der weiße hat mehr Schärfe und weniger Aroma als der schwarze).

Andersherum formuliert: Ein Carpaccio ist weder die edlere Variante des Wurstsalats noch ein Salatteller mit Rindsfiletscheibchen, die zufällig unter statt auf dem Salat liegen. Verwandt ist es eher mit dem Carne cruda al coltello, der piemontesischen Art des Tatars. In "Mammas Küche im Piemont" (München 1993) wird die kleingehackte Kalbsnuss mit Olivenöl, Zitronensaft, Knoblauch, Salz und Pfeffer gewürzt. Die Autorin des Rezepts, Palmira Manzo, sagt es deutlich: "In der entsprechenden Jahreszeit kann man das Fleisch auch mit Steinpilzen, Butterpilzen oder Trüffeln garnieren. Bei dem traditionellen Rezept haben weder Parmesanstückchen noch eingelegte Oliven noch andere Zutaten, die sich eine blühende, aber eher schädliche als nützliche Phantasie ausgedacht hat, irgendetwas verloren."

Das gilt mutatis mutandis auch fürs Carpaccio.