Eine Heirat von Stadt und Land

12. März 2012 Kurt Bracharz
Bildteil

Es kommt zwar nur selten vor, aber manchmal eben doch, dass einen die Lektüre eines Rezepts in einem Kochbuch verblüfft. Ein besonders überzeugendes Beispiel dafür ist jenes für "Züricher Geschnetzeltes mit Champignons" in einem Buch, dessen Titel "Echte Klassiker, die jeder liebt" verspricht (München 2009). Die Rezepte stammen von Monika Schuster, die Kurzkommentare dazu von Alfons Schuhbeck, die Fotos sind von Klaus Maria Einwanger.

Alle drei sind keine Schweizer, aber reicht das als Erklärung aus, warum sie "etwa 1 cm dicke Scheiben" vom Kalbsfilet verwenden, die nicht mehr weiter zerteilt werden, also sicher kein "Geschnetzeltes" sind und auf dem Foto wie Kesselfleisch aussehen? Da kommt es dann auf weitere nicht-"klassische" Zutaten wie Thymian, Estragon, Dijon-Senf, Kartoffelstärke, Weinbrand und Currypulver auch nicht mehr an.

Die Champignons kann man gelten lassen, sie sind ein Surrogat für eine ältere Zutat, die nicht mehr oft Verwendung findet: Kalbsnieren. In Marianne Kaltenbachs Buch "Aus Schweizer Küchen", Untertitel: "Unverfälschte Originalrezepte aus den 26 Kantonen der Schweiz" (München 2004) wird geschnetzeltes Kalbfleisch in Butter kurz angebraten und warm gestellt. Dann lässt man Schalotten leicht anziehen, bestäubt sie mit Mehl und löscht mit trockenem Weißwein ab, kocht diesen auf die Hälfte ein und gibt Rahm zu, der mit Salz, Pfeffer und Zitronenschale gewürzt wird. Das Fleisch wird in die heiße – aber nicht mehr kochende – Soße gegeben und, mit Petersilie bestreut, sofort serviert. Kaltenbach merkt noch als "besonders gute Variante" an, man könne ein Drittel des Kalbfleischs durch fein geschnittene Kalbsniere ersetzen. "Zitronenschale weglassen und nur 100 g Rahm verwenden oder weglassen."

Der Schriftsteller Al Imfeld schrieb zur Kalbsniere als Zutat: "Das Essen hatte früher Symbolcharakter: Was man isst, ist man. Also hatte eine Zunftgericht etwas Sinnträchtiges zu sein. Es war ein Festessen, um den Winter zu vertreiben, eine Heirat von Stadt (Kalbfleisch) und Land (Nierli). So kamen beide Schichten zusammen. Das Geschnetzelte war somit ein Ritual, um Einheit und Frieden zu schaffen."

Das steht in "Urchuchi Deutschschweiz und Graubünden" von Martin Weiss (Zürich 2005), wobei das Buch kein Rezept für Züri-Gschnätzlets enthält, aber einen Abschnitt über seine Geschichte, der besagt, dass das Wort "Gschnätzlets" für klein geschnittenes Fleisch schon 1533 auftaucht, aber noch 1929 (das war 2005 Stand der Aufarbeitung des schweizerischen Idiotikons) nicht mit dem Wort "Zürcher" gekoppelt war. Das Gericht soll um 1850 entstanden sein, als man in den Haushalten auf gemauerten Herden auf "modernen" Pfannen zu kochen begann. Den Namen "Züri-Gschnätzlets" hat es fast ein Jahrhundert später vermutlich von der Zürcher Gastronomie bekommen, die damit eine Stadt-Spezialität kreieren wollte.

Auf der Betty-Bossi-Webseite steht dazu: "Rezepte für "Geschnetzeltes Kalbfleisch" sind schon seit über 100 Jahren in den Schweizer Kochbüchern zu finden, jedoch ohne gluschtige Rahmsauce, Champignons und Nierli. Die Gastroautorin Alice Vollenweider hat Vorläuferrezepte (Scheiben-, Schnitzelfleisch) in österreichischen Kochbüchern aus dem 19. Jahrhundert entdeckt. Dank Kochbüchern oder Köchen aus Österreich fand das Rezept vermutlich seinen Weg in die Schweiz. (...) Das Gericht, so wie wir es kennen, taucht erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts in den Kochbüchern auf. "Geschnetzeltes nach Zürcher Art" ist in Rosa Grafs "Das neue Kochbuch" von 1947 zu finden. Im Kapitel zu nationalen und regionalen Gerichten entdeckt man aber nicht das Gericht, so wie wir es kennen. Noch ist es ohne Champignons und Nierli. (...) Elisabeth Fülscher notiert 1960 in ihrem berühmten Kochbuch in ganz kleiner Schrift die Zugabe von Champignons: Als zweite Variante des Gerichts "Geschnetzeltes Kalbfleisch" soll man eine Büchse Champignons und Crevetten (!) hinzugeben."

In einem undatierten älteren Kochbüchlein "Hundert Küchenspezialitäten aus allen Kantonen, herausgegeben von der Fabrik von Maggis Nahrungsmitteln in Kempttal" steht im Zürich-Abschnitt ein "Geschnetzeltes Kalbfleisch. (...) Das von Haut und Sehnen befreite Fleisch zuerst in dünne Plätzli, dann in Streifen und zuletzt in feine Schnitzelchen schneiden. Die Zwiebel oder Schalotte fein hacken und in der rauchheissen Butter hellgelb anrösten. Das mit dem Mehl bestreute Fleisch in kleinen Partien hineingeben und auf scharfem Feuer unter ständigem Wenden stark anbraten. Dann in der Mitte der Pfanne einen kleinen Platz frei machen, den Essig hineingeben, mit dem Fleisch vermischen und sofort kurz eindämpfen. Hierauf mit einigen Löffeln Wasser oder Weisswein (auch Rahm) ablöschen, etwas Salz und Muskat beifügen, rasch aufkochen und vor dem Anrichten einige Güsschen Maggi-Würze darunterziehen. Vorzüglich zu Kartoffelrösti."

Das in dem Band "Kronenhalle Zürich" (Wiesbaden 2005) enthaltene Rezept des Zürcher Traditionslokals nimmt Kalbsfilet und Champignons, gibt Bouillon, Saucenfond und den Saft vom angebratenen Kalbfleisch in die Sauce mit den gescheibelten Pilzen, gießt den Rahm dazu, püriert mit dem Stabmixer und passiert durch ein Sieb. "Mit Cayennepfeffer, nach Belieben mit Cognac abschmecken. Zum Anrichten das Fleisch in eine genügend tiefe Schüssel geben, die Sauce darüber giessen. In der "Kronenhalle" wird es traditionellerweise mit Rösti serviert."

In diesem letzten Punkt sind sich fast alle einig, aber 1972 empfahlen die "Schweizer Tafelfreuden" Nudeln oder Reis. Noch merkwürdiger das schon erwähnte Kochbuch von Elisabeth Fülscher: Nach Zürcher Art seien Hörnli und Apfelmus die Beilagen, möglich seien auch ein Reisring, Kartoffelstock oder – letzten Endes also doch – Rösti.