Ein junger Mann erzählt aus der Stille des Autismus

Naoki Higashida, geboren 1992 in Kimitsu, Japan, wurde im Alter von fünf Jahren mit schwerem, nonverbalem Autismus diagnostiziert. Seine Erzählungen sind in ihrer ungekünstelten Schlichtheit wunderschön, lehrreich und heilsam. Wer verstehen will, der lese!

Achse 1+2+3: Diagnose + Prognose + Entwicklung
„Angeblich interessieren sich autistische Personen ja wenig für andere Menschen und können sich auch kaum in deren Gefühle hineindenken. Inzwischen bin ich mir dessen aber nicht mehr ganz so sicher. Es gab mal eine Situation, da stellte ich plötzlich fest, dass meine Mama nicht da war. Erschrocken machte ich mich auf die Suche. Sie war dann nur im oberen Stockwerk, und es überraschte sie, dass ich sie überhaupt suchte. Bis dahin war es immer meine Mutter gewesen, die sich Gedanken machte, wohin ich wieder mal verschwunden war. Ich hatte noch nie aus Sorge um jemanden nach ihm gesucht, immer nur, wenn ich etwas von ihm wollte. Bis dahin hatte ich in einer Welt mit nur einer einzigen Hauptperson gelebt, ziemlich ähnlich wie in einem Bilderbuch. Das Leben kann für Autisten durchaus so sein, und wenn auch nur ein einziger Tag so mühelos vorübergehen könnte wie das Umschlagen einer Buchseite, wären wir zufrieden. Das heißt aber nicht, dass wir unfähig zu Mitgefühl oder Sympathie wären. Jener Naoki, der plötzlich Angst um seine Mutter hatte, war ein Naoki, der aus seiner Bilderbuchexistenz herausgesprungen war. Ich weiß, dass ich nie ganz und gar - wenn überhaupt - wie jeder andere sein werde, aber ich habe vor, nach und nach meine eigene Geschichte zu schreiben.”

Achse 4: Intelligenz
„Wir Autisten können seltsame Sachen sagen und komische Dinge tun, aber das macht uns nicht zu einem minderwertigen Zweig der Menschheit. Bitte urteilt nicht vorschnell und geht immer davon aus, dass wir gute Menschen sind. Wenn ihr den Verdacht habt, wir seien hoffnungslose Fälle, dann kriegen wir das sehr genau mit. Der Wert eines Menschen bemisst sich nicht nach dem Urteil anderer. Und Freundlichkeit bringt in uns allen das Beste hervor.”

Achse 5+6: Körper + Psyche
„Wer mental aus dem Ruder läuft, scheint nicht mehr er selbst zu sein. Doch auch solche Personen spüren offenbar, dass etwas nicht stimmt. Wenn die betroffenen Personen merken, dass sie sich seltsam verhalten, dächte man doch, sie sollten in der Lage sein, das zu ändern. Aber sie können es nicht … Entgegen der allgemein gängigen Vorstellung sind für uns Körper und Geist nicht miteinander verbunden; jedenfalls erleben wir es nicht so.”

Achse 7: Alltag
„Wahrscheinlich sind alle Eltern eines Kindes unglücklich, wenn sie die Diagnose Autismus hören … Doch wie verzweifelt ihr Eltern auch über euer Kind sein mögt, bitte lasst es nicht im Stich. Die Kinder können nichts für ihr Sosein. Sie wissen ebenso wenig wie ihr, warum sie anders sind als andere Kinder. Und bedenkt bitte: So hart es für euch als Eltern auch sein mag, für das Kind ist es noch härter … Irgendwann ist man als Eltern zu alt, um noch für sein erwachsenes Kind zu sorgen. Das heißt, die gemeinsame Lebensspanne von Eltern und Kind ist begrenzt. Deshalb unterstützt euer Kind bitte, solange es noch ein Kind ist und ihr noch in der Lage dazu seid. Lacht miteinander und erzählt euch eure Geschichten. Ihr könnt diese Jahre nicht zurückholen. Ihr solltet sie zu schätzen wissen. Das ist alles, was ich mir wünsche.”

Naoki Higashida: Siebenmal hinfallen, achtmal aufstehen. Ein junger Mann erzählt aus der Stille des Autismus. Aus dem Englischen von Christel Dormagen. Reinbek/Hamburg: Rowohlt Verlag 2019, 254 Seiten, EUR 12,40