Das Museum Tinguely präsentiert die Vielfalt der Schriftbilder von dreizehn internationalen Art Brut-Kunstschaffenden. Meist am Rande der Gesellschaft, in Isolation oder ausgegrenzt lebend, kreieren sie in ihrer eigenen Welt, ohne zu wissen, dass sie sich in Sphären der bildenden Kunst bewegen. Auf verschiedenen Untergründen werden Zeichen hinterlassen, Stoffe bestickt oder Mauern bemalt.
Liebeserklärungen, Wutbriefe, Gedichte, Gebete, erotische Botschaften, Plädoyers, tagebuchartige Aufzeichnungen und utopische Erzählungen: Die oft kaum bekannten Schriftstücke von Art Brut-Kunstschaffenden erstaunen und faszinieren. Entstanden meist hinter verschlossenen Türen, im Stillen und im Geheimen, tragen sie häufig keine Anschrift oder richten sich an einen erträumten oder spirituellen Adressaten. Die in sonderbarer Schönschrift verfassten, hingekritzelten oder hastig notierten, mitunter gestickten oder mit Inbrunst in Stein geritzten Texte werden oftmals von Bildern oder Zeichnungen begleitet. Sie offenbaren eine verblüffende Kreativität, entspringen einem dringlichen Bedürfnis, sich auszudrücken, und stellen eine Art des tonlosen Widerstands dar.
Das Schreiben fördert die Selbstbeobachtung und wird zu einer wichtigen kreativen Ressource, die manchmal den Weg zu einer Identitätssuche oder der Erfindung eines anderen Lebens und andere Male den Aufbau einer neuen Welt oder die Umgestaltung des Kosmos ermöglicht. Zettel und Blätter, Hefte und Bücher, Skulpturen und Textilien werden Träger extravaganter persönlicher Inschriften, poetisch und plastisch zugleich. Sie unterstützen die hartnäckige Suche nach dem Wesen der Dinge und Wörter.
Die dreizehn Urheberinnen und Urheber - exzentrische Tagebuchverfasser, Briefschreiber oder utopische Autoren, noch von Jean Dubuffet oder in jüngerer Zeit entdeckt - sind frei von jedem Wunsch nach Öffentlichkeit. Sie gehen einfallsreich und ungeniert ans Werk und pflegen einen spielerischen Umgang mit Syntax, Grammatik und Orthografie. Statt auf Konventionen und Normen zu achten, beschäftigen sich Adolf Wölfli, Arthur Bispo do Rosärio oder Giovanni Battista Podesta lieber mit sprachlichen Neuschöpfungen, semantischen Spielereien oder grafischen Labyrinthen aus Wörtern, Sätzen und Zeichen. Zeile für Zeile rütteln sie an Regeln und setzen sich über sie hinweg, besteht doch ihre Absicht nicht darin, zu kommunizieren oder Informationen auszutauschen. Stattdessen nehmen Gedanken ihren Lauf, oftmals verwirrende Ideen bilden sich heraus, und ihre Vorstellungskraft scheint die Autorinnen und Autoren selbst zu überraschen. Das Schreiben nimmt einen performativen Wert an. Die fragilen, textilen Werke des Brasilianers Arthur Bispo do Rosario werden im Rahmen von "Ecrits d’Art Brut - Wilde Worte & Denkweisen" erstmals in der Schweiz ausgestellt.
Der einzige noch lebende Kunstschaffende, dessen Werke in der Ausstellung präsentiert werden, ist der Schweizer Pascal Vonlanthen. Auch einige seiner Zeichnungen werden der Öffentlichkeit zum ersten Mal präsentiert, ebenso wie einige Arbeiten von Fernando Nannetti. Während der Ausstellungsvorbereitungen entstand ein Film über das Schaffen Vonlanthens. Andere Videos geben Einblick in die Lebensumstände der bereits verstorbenen Künstlerinnen und Künstler. Seltene Porträtfotografien beleben die Ausstellungsszenerie.
Speziell für die Ausstellung rekonstruiert die Künstlerin Mali Genest ein zerstörtes Werk von Marie Lieb (1844-1917), von dem heute nur noch zwei überlieferte Fotografien (1894) aus der Heidelberger Psychiatrie vorliegen.
Ecrits d’Art Brut - Wilde Worte und Denkweisen
20. Oktober 2021 bis 23. Januar 2022