ECM – Eine kulturelle Archäologie

ECM (Edition of Contemporary Music) wurde 1969 von Manfred Eicher gegründet. Zu einem Zeitpunkt, als der Status von zeitgenössischer Musik genreübergreifend neu definiert wurde, gelang es ECM, Jazz und improvisierte sowie komponierte Musik aus dem Tonstudio in die Welt zu bringen. Mit einem klaren und transparenten Klangbild setzte ECM neue Maßstäbe. Unter den Produktionen von Manfred Eicher finden sich einige der außergewöhnlichsten Musiken überhaupt. Sie führten zu einem neuen räumlichen Verständnis von Klang, mit dem sich das Label von anderen, ebenbürtigen, unterschied.

Der reichhaltige Katalog des Labels umfasst Aufnahmen von Keith Jarrett, Chick Corea, Carla Bley, Meredith Monk, Marion Brown, Codona, dem Art Ensemble of Chicago, sowie die Musik der New Series von Perotin und Machaut bis zu zeitgenössischen Komponisten wie Arvo Pärt, György Kurtág, Giya Kancheli, Heinz Holliger, Luciano Berio, Steve Reich und Heiner Goebbels, eingespielt von Musikern wie Gidon Kremer, Dennis Russell Davies, Kim Kashkashian, Thomas Demenga, dem Keller Quartett, András Schiff, dem Hilliard Ensemble und vielen anderen. Die hohe künstlerische Qualität, Klarheit und Frische dieser Aufnahmen wurden Referenz in der Musikwelt. In einer Empfehlung von Gertrude Stein kommt zum Ausdruck, was die ganz eigene Klangsprache, die Manfred Eicher über die Jahre kontinuierlich ausgebaut hat, ausmacht: "think of your ears as eyes".

Die Ausstellung ist angelegt wie ein sensorisches Feld, wo fotografische, klangliche, filmische, typografische Formate und Installation vermischt sind. Diese Art der Präsentation würdigt die gesamte Leistung von ECM: den disziplin- und kulturübergreifenden Ansatz, in dem das vielschichtige Verhältnis von Klang und Bild ebenso seinen Platz findet wie Poesie und zeitgenössische Kunst.

Ein Herzstück der Ausstellung ist "See the Music" von Theodor Kotulla. Der Film entstand 1971, geriet anschließend in Vergessenheit und ist zum ersten Mal nach langer Zeit wieder zu sehen. Die Kamera begleitet Marion Brown (Altsaxophon), Leo Smith (Trompete), Manfred Eicher (Kontrabass), Fred Braceful (Percussion) und Thomas Stöwsand (Cello, Fagott) bei Proben und Vorbereitungen für ein Konzert, bei den komplex komponierten Improvisationen von Marion Brown und einem Interview, in dem Brown und Smith über die wesentlichen Elemente kreativer Musik sprechen. Die Schlussszene, ein Spaziergang der Musiker durch den Englischen Garten, macht den Film zu einem Zeitdokument über München als Ort der Avantgarde.

Als Auftragsarbeit für das Haus der Kunst entwickelt die Otolith Group einen Videoessay über das Verhältnis von Film und Sound. Dieses Video ist inspiriert von Archivmaterial zu den drei Alben, die Codona (Don Cherry, Collin Walcott und Nana Vasconcelos) zwischen 1978 und 1982 mit ECM aufgenommen hat. Die Otolith Group (Anjalika Sagar und Kodwo Eshun) leitet ihren Namen ab von Otolith, zu Deutsch "Ohrstein". Der Bezug auf diesen kleinen anatomischen Partikel im Innenohr, zuständig für Gleichgewichtssinn und Orientierung, ist symbolisch für die Verschiebung von Aufmerksamkeit, mit der sich das Künstlerkollektiv beschäftigt.

Ein Film aus Peter Greenaways Serie "Four American Composers" von 1983 ist der Sängerin, Performerin, Tänzerin und Choreografin Meredith Monk gewidmet, die ihre ersten Aufnahmen bei ECM produziert hat. Greenaway hat eine bahnbrechende Aufführung der "Dolmen Music" festgehalten, bei der die theatrale musikalische Auffassung von Meredith Monk und ihre Überzeugung, dass Klänge gleichzeitig futuristisch und archaisch sein können, besonders greifbar sind.

In vertrauensvoller Zusammenarbeit mit Jean-Luc Godard arbeitete Manfred Eicher am Soundtrack für dessen Film "Nouvelle Vague", der später auch vollständig bei ECM erschien. "Wenn Sie die Tonspur meines Films hören, ohne die Bilder zu sehen, ist das sogar noch besser", hat Godard einmal gesagt. Dieser Soundtrack, in der Ausstellung durch Filmstills zu einer Installation ergänzt, lässt die Handlung mit ihren transparenten Fäden zwischen Dingen und Menschen ebenso deutlich spürbar werden wie Bilder.

Filme von Stan Douglas ("Hors-champs", 1992) und Anri Sala ("Long Sorrow", 2005, mit Saxophonist Jemeel Moondoc) ergänzen die Ausstellung um zentrale Positionen aus der zeitgenössischen Kunst. Sie arbeiten den Nexus heraus zwischen Free Jazz, den kulturpolitischen sozialen Gegebenheiten jenseits des Atlantik sowie die spezifische Darstellung von Free Jazz im europäischen Fernsehen.

Fotografen wie Deborah Feingold, Roberto Masotti, Ralph Quinke, Dieter Rehm, Andreas Raggenbass und Takashi Itoh haben die Musiker während der Aufnahmesitzungen, Konzerte und Performances begleitet; ihre fotografische Dokumentation ist Teil der Ausstellung. Eine Seltenheit bilden die Fotos, die 1980 in New York entstanden, während der Aufnahme von Steve Reichs "Octet. Music for a Large Ensemble". Die Originalabzüge in Schwarz-Weiß zeigen die Musiker nicht nur bei der Einspielung der Musik, sondern auch anschließend beim Abhören. Damit gibt Deborah Feingold einen einzigartigen Einblick in den Prozess und die Stimmungen, welche das Hören hervorruft.

1978 veröffentlichte ECM die "Sun Bear Concerts". Die ursprünglich zehn LPs dieser Box enthalten die vollständige Aufzeichnung von fünf Improvisationskonzerten, die der Pianist Keith Jarrett 1978 in Japan gegeben hat. Hier war es Takashi Itoh, der mit der ausdrucksvollen Mimik und ungewöhnlichen Köperhaltung des Künstlers die Natur des kreativen Prozesses fotografisch dokumentiert hat. ECM veröffentlichte diese Dokumentarfotos meist im Booklet eines Albums; nur in seltenen Fällen waren Musikerporträts auf dem Cover zu sehen.

Ebenso eigenwillig wie Fotografie setzt ECM auch grafische Gestaltung ein. Auf vielen Covern finden sich Schriftbilder, Zeichnung, Aquarell und Collagetechnik. Sie enthalten dabei so wenig Information wie irgend notwendig und sind oft nur zweifarbig oder sogar monochrom. Mit ihrem Minimalismus wollen sie sich abheben von einem Umfeld, in dem exzessive Mengen an Information Lärm erzeugen und die Regel sind. Mit grafischen Mitteln bilden die Cover die Entsprechung zu der hohen Achtung vor der Stille, für die ECM geschätzt wird. Vertreten ist die Grafikdesignerin Barbara Wojirsch, die seit den frühen 1970er- bis Mitte der 1990er-Jahre für ECM arbeitete, und der Fotograf Dieter Rehm, dessen experimentelle Bilder auf den Covern vieler Alben erschienen sind.

ECM – Eine kulturelle Archäologie
23. November 2012 bis 10. Februar 2013