Dominik Graf ist eine Ausnahmeerscheinung im deutschsprachigen Kino und Fernsehen – und er ist vieles auf einmal: Autorenfilmer im Geiste der Nouvelle Vague und des New Hollywood; Genrefilmer, der sich innerhalb eng abgesteckter Formate listig Freiräume erkämpft; Kinoessayist in Wort und Bewegtbild. Manchmal erscheint sein Schaffen wie ein en passant akkumuliertes Porträt des zeitgenössischen Deutschland, manchmal entführt er sein Publikum aber auch in die Welt um 1800.
Das Österreichische Filmmuseum widmet dem "Kinotier" Dominik Graf nun einen Schwerpunkt, der aus mehreren Teilen besteht: Die Filmreihe in Anwesenheit des Regisseurs umfasst 15 seiner Werke sowie eine kleine "Carte blanche" mit fünf Arbeiten, die für Graf wichtige Inspirationen darstellen (darunter etwa Filme von Nicolas Roeg, Eric Rohmer und Arthur Penn, aber auch deutsche Synchronfassungen französischer und italienischer B-Thriller). Bereits erschienen ist das Buch Dominik Graf von Christoph Huber und Olaf Möller (Band 18 der Filmmuseum Synema Publikationen). Zusammen mit Ralph Eue wird Dominik Graf auch eine Lehrveranstaltung des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (Universität Wien) leiten – als Blockseminar im Filmmuseum. Der "erste Akt" des Gesamtprojekts findet bereits Mitte März auf der Diagonale statt: In einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem Filmmuseum würdigt das Festival Dominik Graf mit einem speziellen Tribute zu seinen Arbeiten im Kriminalfilmgenre.
In einem frühen Traktat unterschied der britische Kinodenker Raymond Durgnat zwischen zwei Filmemachertypen: den Aristotelikern und den Platonikern. Erstere versuchen, ein immer neues Gleichgewicht zwischen ihren Widersprüchen zu finden; letztere wollen durch das beständige Ausmerzen aller Ambivalenzen ein Absolutes kreieren. Dominik Graf kann viel mit dieser Zuspitzung anfangen und widerspricht nicht, wenn man ihn ein Prachtexemplar unter den Aristotelikern nennt. Nicht "Schundfilm" oder Ozu ist seine Devise, sondern beides. Aber nie zugleich – nur so nah beieinander, dass kurze, grelle Funken sprühen. Kino, das ist für Graf ein Erfahren der Welt von Augenblick zu Augenblick, also das Anstreben eines Ozu-haften mono no aware mit der Leck-micham-Arsch-Haltung eines knorrigen Industrie-Routiniers.
Graf sieht sich selbst als Profi – in bewusster Absetzung vom Typus des Post-Oberhausener Autorenfilmers, der das westdeutsche Kino der 70er Jahre prägte. Was ihm als Ideal vorschwebte, war der Regiehandwerker, der in einem industriellen Zusammenhang arbeitet. Die Möglichkeiten eines klassischen Studiosystems glaubte er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und an der starken Brust der Bavaria zu finden bzw. neu erfinden zu können. In diesem anonymen Kontext wollte er Genre-, Konfektionsware schneidern, die Muster jedoch mit Verve und ungewöhnlichen Maßnahmen konterkarieren, unterminieren – und dabei unsichtbar bleiben wie ein Schmuggler in der Nacht. Ein cinephiler Traum, was sonst. Denn wer wirklich was kann, wird bemerkt, u.a. wegen all dem, was ihn vom Rest unterscheidet.
Kein anderer im deutschen Kino und TV der letzten drei Jahrzehnte erzählt derartig dynamisch, packend, verwegen wie Graf – oft sprunghaft und ganz aus den Charakteren heraus, ihren Sehnsüchten und Ängsten, ihrem Begehren, ihren Abgründen. Wie Karoline Eichhorn in "Der Felsen" (2002) trunken durch eine korsische Nacht in die Arme zweier Fremdenlegionäre stolpert oder Mišel Matičević in "Komm mir nicht nach" (2011) versonnen von den Pornoheft-Protagonistinnen seiner Jugend schwärmt, die er manchmal im Internet wiederfindet, älter nun und anders schön: das sind Augenblicke, in denen kurz und prägnant alles über die Liebe gesagt wird und über das, was sie mit uns macht.
Graf, Jahrgang 1952, schloss die HFF München 1979 ab, danach "schaffte er" in der Produktion, wie man am Bau sagen würde: Er drehte Serienepisoden am laufenden Meter, revolutionierte dabei mit "Der Fahnder" (ab 1983) das Vorabend-Fernsehen und schuf mit "Schwarzes Wochenende" (1984/86) und "Frau Bu lacht" (1995) zwei Tatort-Meilensteine. Dazwischen demonstrierte er im Kino seine Wandlungsfähigkeit und Virtuosität: der Kitchen Sink- und Biker-Film "Treffer" (1983) entwickelte sich zum Schlüsselwerk einer ganzen Generation; "Die Katze" (1988) ist schlichtweg der beste Krimi, den je ein bundesdeutscher Regisseur zustande gebracht hat. Der Versuch, an diesen raren Kritiker- und Kassenerfolg mit dem Action-Paranoia-Fresko "Die Sieger" (1994) anzuschließen, scheiterte – ein Meisterwerk manqué, das Grafs Karriere fast beendete. Hatte er bis dahin das Fernsehen als wertvolle Möglichkeit betrachtet, wurde es nun zur Wahlheimat, die er nur mehr selten verlässt. Kino machte er dennoch immer, vom Kopf her.
Ende der 90er Jahre begriff Graf, dass er die prinzipiellen Möglichkeiten des Konzepts "Genre" ausgeschöpft hatte – und erfand sich neu, mit seinem ersten Essayfilm. "Das Wispern im Berg der Dinge" (1997) wurde zum (Selbst-)Porträt im Spiegel seines früh verstorbenen Vaters. Seine Erzählweise wurde fragmentierter und flüssiger, und "Genre" geriet nun zum Baukasten, der Hybride aller Art ermöglicht: "Die Freunde der Freunde" (2002) – Coming of age-Drama und metaphysisches Schauermärchen; "Das unsichtbare Mädchen" (2012) – Heimatfilm und Rachekrimi; "Das Gelübde" (2007) – Künstlerbiografie und politischer Historienthriller. Wie Dominik Graf, der berühmteste Unbekannte der deutschsprachigen Medienlandschaft, sind sie vieles auf einmal, einzigartig, sich widersprechend, sicher zwischen allen Stühlen über den Dingen schwebend.
Dominik Graf
21. März bis 3. April 2013