Direct Cinema – Hautnah dran an Personen und Ereignissen

1960 brachte eine Wende im Dokumentarfilm. Neue technische Errungenschaften ermöglichten es den Filmemachern Ereignisse und Personen in noch nie gesehener Direktheit einzufangen. In Frankreich wurde die Bewegung "Cinéma Verité" in den USA "Direct Cinema" genannt. In letzteres vermittelt das Österreichische Filmmuseum mit einer im Rahmen der Wiener Festwochen präsentierten Filmreihe einen Einblick.

Leichte, tragbare 16mm Kameras in Verbindung mit neuen kabellosen Synchronton-Aufnahmegeräten und lichtempfindlicheres Filmmaterial für Innen- und Außenaufnahmen waren die technische Basis für die Entwicklung des "Direct Cinema". Mit zuvor nicht gekannter Unmittelbarkeit konnte man nun die Wirklichkeit einfangen.

Auf auktorialen Voice-over Kommentar schien man nun verzichten zu können, Bild und Ton sollten für sich sprechen. Die Rolle des Regisseurs ist im "Direct Cinema" die eines Beobachters, der ohne vorgefasste Meinung und Drehplan an sein Projekt geht und die Personen in ungestellten, authentischen Situationen zeigt. Der Filmemacher erscheint als Entdecker, stellt keine Fragen, gibt keine Anweisungen und vermeidet während der Aufnahme jede Kommunikation mit den gefilmten Personen. Das Filmteam wird möglichst klein gehalten, auf zusätzliches Licht, Stativ und untermalende Musik wird verzichtet. Kennzeichnend ist auch, dass die Drehbedingungen und das Filmen an sich durch die Präsenz der Kamera im Bild transparent sind.

Zentrale Kräfte in der Anfangsphase des Direct Cinema war die zunächst von Time-Life finanzierte Kooperative von Robert Drew, der ursprünglich Journalist war, und Richard Leacock, der zuvor als Kameramann arbeitete. Später stießen Don A. Pennebaker und Albert Maysles, der aus der Psychologie kam, zu dem Duo. Gemeinsam war ihnen ein Abschluss an einer Elite-Universität wie Yale und Harvard sowie die Nachkriegserfahrung. Nicht die Geschichte interessierte sie, sondern die eigene, aktuelle Gesellschaft.

In der Kollektivarbeit "Primary" (1960) begleiteten sie den Vorwahlkampf John F. Kennedys. Typisch für das "Direct Cinema" ist nicht nur der Blick hinter die Kulissen, sondern auch die Arbeit mit einer vom Spielfilm vertrauten Spannungsdramaturgie, die vor allem durch die nachträgliche Bildauswahl und Montage erzeugt wurde. Mit der Gegenüberstellung des politischen "Auslaufmodells" Humphrey und der Siegerfigur Kennedy, der Entwiclung von Geschichten über Krisensituationen zu einem Höhepunkt, einer Auflösung und einem Ende ist das Grundmuster vieler Filme des "Direct Cinema" vorgegeben.

Weil die Filmemacher zunehmend versuchten Einsichten in Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu bieten, für die sich die etablierten Medien nicht interessierten, zielte das "Direct Cinema" seit Mitte der 1960er Jahre verstärkt auf die Herstellung von "Gegenöffentlichkeit" ab: Bürgerrechtsbewegung, Kuba-Krise und Kennedys-Präsidentschaft wurden ebenso zum Thema wie die Inszenierung von Politik und die Auswüchse des Medienbusiness.

Daneben entstanden zahlreiche Rockmusikfilme wie "Don´t Look Back" (über Bob Dylan; 1967), "Monterey Pop" (über Jimmy Hendrix; 1968) oder "Gimme Shelter" (über die Rolling Stones; 1970) und unkonventionelle Porträts von Berühmtheiten wie Marlon Brando, Igor Stravinsky, Truman Capote und Muhammad Ali. Heruntergeholt auf das Alltägliche wurden im "Direct Cinema" die Stars und der kleine Mann von der Straße wurde zum Star.