Die Welt der Dinge

Die moderne Gesellschaft, so schreibt Karl Marx 1867 in den Eingangssätzen des "Kapital", erscheint uns phänomenologisch als eine ungeheure Ansammlung von Waren und Dingen. Für heutige Ohren klingt das auf eine kuriose Weise selbstverständlich - und zugleich prophetisch. Im Vergleich zur Warenwelt der Gegenwart würde das 19. Jahrhundert, auch das "Jahrhundert der Dinge" genannt, wohl wie ein Dorfladen neben einem glitzernden Einkaufszentrum ausschauen.

Alles ist da: In Überfülle, unübersehbar, jederzeit verfüg- und austauschbar. Die "Population der Dinge" (Hartmut Böhme) nimmt täglich zu, jeder Haushalt betreibt Massendinghaltung. Der Sozialwissenschaftler Bernd Guggenbauer beschreibt daher Zivilisation als "Zuvielisation". Die Folgen sind unübersehbar: Wir verwandeln die Ressourcen unserer Umwelt in Dinge, die nach kurzer Zeit überflüssig werden.

Zugleich macht sich ein beunruhigendes Gefühl breit. Dinge sind nicht einfach Dinge. Sie zeigen, wer wir sind - oder sein möchten - wir besitzen sie, noch mehr aber besitzen sie uns. Alles kann zum Ding werden, selbst Emotionen, Gefühle, der Körper selbst, der mit Fitnessgeräten und Schönheitsoperationen optimiert wird. Soziale Zugehörigkeit wird durch den Besitz bestimmter Dinge symbolisiert, individuelle Identität durch Markenimages kreiert; der Fetischismus der Dinge ist es, der an die Stelle religiöser und metaphysischer Orientierungen rückt und die Gesellschaft nach der säkularen "Entzauberung" im Innersten zusammenhält.

Die Kehrseite dieses Rauschs der Dinge ist ein beunruhigendes Fremdwerden der Dinge. "Woher kommen sie, was sind sie, wohin gehen sie?" fragt der Philosoph Konrad Paul Liessmann: "Die alte metaphysische Frage nach dem Ursprung und der Bestimmung des Menschen hat sich verschoben. Nun sind es die Dinge, die Artefakte, die Gegenstände, die Waren aller Art, von denen wir nicht zu sagen wissen, woher sie eigentlich stammen und welcher Zukunft sie nach ihrem Gebrauch, ihrer Nutzung, ihrer Verwendung entgegengehen." Das Verschwinden der Dinge durch Digitalisierung und Virtualisierung verstärkt dieses Gefühl der Entfremdung noch weiter und die eigentliche Revolution steht uns erst noch bevor: das "Internet der Dinge".

Ein wachsendes Bewusstsein von der Beschränktheit unserer Ressourcen und vom Verschwinden der Dinge in der Cyberwelt deutet darauf hin, dass das Verhältnis des Menschen zur Dingwelt im Wandel begriffen ist. In den Wissenschaften, in der Philosophie wie in der Kunst ist eine neue Hinwendung zur Welt der Dinge, zur Objekt-Welt, zur "material culture" zu beobachten. Der französische Soziologe Bruno Latour fordert eine neue Aufmerksamkeit auf die Beredsamkeit der Dinge. Für den Philosophen der Hyperrealität Jean Baudrillard ist es das banale Objekt, das eine Subversion der Virtualität unserer Zeit ermöglicht und der Künstler Tino Sehgal hat es zum Grundprinzip seiner Arbeit gemacht, keine materiellen Dinge herzustellen.

In der Kunst, vor allem in der Malerei, sind die Dinge seit Anbruch der Neuzeit allgegenwärtig. Waren die Gegenstände der Kunst bis zur Renaissance vor allem verbildlichte Erzählungen aus der Mythologie, der Bibel und repräsentative Herrscherdarstellungen, so ziehen mit der Erfindung der Perspektive Landschaften, Stadtveduten, Szenen aus dem Alltag und nicht zuletzt Gegenstände des Alltags in Gestalt von Stillleben in die Malerei ein. Gustav Courbet eröffnet der Kunst unter dem programmatischen Titel des Realismus das Feld der Wirklichkeit und mit ihr auch die nach wie vor schwelende Frage nach der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung und ihrer Darstellbarkeit.

Mit der Aufmerksamkeit auf die Dinge setzte neben der Abstraktion die zweite große Revolution in der Kunst des 20. Jahrhunderts ein: Duchamps Fountain, Ready-made, die "objets trouvés" der Surrealisten, die Pop-Art und ihre Derivate, Trash, die Feier des Alltäglichen, Poetiken des offenen Kunstwerks und des work in progress. Tatsächlich besteht die Gegenwartskunst in ihren hauptsächlichen Formen in einer Vermengung der beiden Sphären der Kunst und der Alltagsdinge. Das Ready-made transponiert industriell hergestellte Produkte in die Sphäre der Kunst, die Pop-art geht den umgekehrten Weg von einem ästhetisch definierten Produkts in das eines reproduzierbaren Industrieartikels.

Fetischisierung, Aufladung, die Fremdheit und Tücke des Objekts, die Überpopulation und das Verschwinden der Dinge durch Digitalisierung, Geld als "Ding an sich" und die letzten Dinge sind die ineinander verschränkten Pole der Ausstellung "Die Welt der Dinge", die sich dem Verhältnis zwischen Dingkulturen und bildender Kunst widmet. Die Werke zeigen, wie sich der Blick auf das Ding gewandelt hat – und wie die Dinge zurückschauen.

Mit Werken von: Gino Alberti, John Baldessari, Julia Bornefeld, Giovanni Castell, Fischli & Weiss, Nadia Kammerer, Erich Kofler Fuchsberg, Meghan Gordon, Michael Höllrigl, Christoph Hinterhuber, Johannes Inderst, Ivo Mahlknecht, Matthias Mahlknecht, Brigitte Niedermair, Sebastian Siechold, Markus Siegele, Markus Vallazza, Sam Taylor-Wood, Matic/Traubeck, Andreas Zingerle

Die Welt der Dinge
21. September bis 3. November 2013