Die Macht des Expressiven

Der "Lebensfries für das Max-Reinhardt-Theater in Berlin" von Edvard Munch, "Geburt", "Tod" und weitere Werke von Max Beckmann und "Der Gestürzte" von Wilhelm Lehmbruck bilden im Hauptsaal der Neuen Nationalgalerie ein einmaliges Ensemble expressiver Kunst, das so vor über 35 Jahren, in der Amtszeit Werner Haftmanns, letztmalig zu sehen war.

Zusammen mit Gemälden des späten Ernst Ludwig Kirchner, die seit langem erstmalig wieder gezeigt werden, mit Arbeiten Pablo Picassos aus den 1940er Jahren, von Emil Nolde, Ernst Barlach und des jungen Ernst Wilhelm Nay vergegenwärtigen sie die bedeutende Tradition einer expressionistischen Kunsthaltung des 20. Jahrhunderts - ergänzt durch Gemälde von Moore, Kitaj, Armando und Penck aus der jüngeren Vergangenheit.

Diese bedingungslose Ausdruckskunst hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg viele der Künstler geprägt, die mit Werken in der Schenkung Otto van de Loo vertreten sind, so dass sie mit diesem Ausstellungsessay gleichsam eingebunden werden in den Kreis ihrer Wahlverwandten und damit übergreifende Dialoge ermöglichen. Das gilt insbesondere für die Maler der Künstlergruppen Cobra (1948 - 1951) und Spur (1958-1965), die neben bedeutenden Einzelgängern wie Henri Michaux, Jean Dubuffet, Antoni Tàpies, Antonio Saura, Arnulf Rainer und Wolf Vostell im Zentrum dieser großzügigen Schenkung von 55 Werken stehen, die der Münchner Galerist und Sammler Otto van de Loo 1991 der wiedervereinigten Nationalgalerie übergab.

46 Gemälde, 5 Zeichnungen und Collagen sowie 4 Skulpturen von 24 Künstlern verschiedener Generationen aus zehn europäischen Ländern stiftete der 1924 in Witten an der Ruhr als Sohn eines Arztes geborene Otto van de Loo. Nach verschiedenen anderen Beschäftigungen wie Schauspielstudium, Kellnerlehre und -tätigkeit, Kundenberater bei BMW und Besuch der Handelsschule hatte er sich für den Galeristenberuf entschieden. Den Ausschlag für diesen Entschluss gab wohl ein vierwöchiger Paris-Aufenthalt 1957, wo er Künstler kennenlernte wie Asger Jorn, mit dem er bis zu dessen Tod 1973 eng befreundet blieb.

Asger Jorn war einer der Hauptinitiatoren bei der Gründung der Künstlergruppe Cobra im November 1948 in Paris und so ist es nahe liegend, dass besonders die Werke von Cobra einen Schwerpunkt der Berliner Schenkung bilden. Zwischen 1948 und 1951 fanden dänische, belgische und holländische Künstler zusammen und loteten in einer betont expressiven Formensprache die mythisch fabulierende Gestaltungswelt zwischen Phantasie und Realität aus. Der Name, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der Städte Copenhagen, Brüssel und Amsterdam, war aber auch bewusst im Sinne der doppelten Bedeutung gewählt, da mit dem Bild der Schlange die durchaus giftige emotionale und intellektuelle Angriffshaltung der meist jungen Künstler und Literaten im Nachkriegseuropa zum Ausdruck kommen sollte.: "Ein Gemälde ist nicht ein Bauwerk aus Farben und Linien, sondern ein Tier, eine Nacht, ein Schrei, ein Mensch oder dies alles zusammen." Dieser Ausruf von Constant war so etwas wie der Leitspruch der Gruppe.

Maler wie Asger Jorn, Constant, Karel Appel, und Pierre Alechinsky haben auch nach dieser gemeinsamen Zeit wiederholt zusammengearbeitet und durch ihre vehement und farbintensiv vorgetragene Malgestik sowie ihre eigenwillig offen gelegte Hintergründigkeit besonders jüngere Künstler wesentlich beeinflusst. Das gilt vor allem für die Münchener Gruppe Spur mit Helmut Sturm, Heimrad Prem, HP Zimmer und dem Bildhauer Lothar Fischer, die sich 1958 bildete. Sie forcierte in ihrer Kunst ganz gezielt eine figurative Dramatik des Bildgeschehens und stand damit in einem bewussten Gegensatz zur damals dominierenden abstrakten Kunst.

Die Kollektion spiegelt in einer repräsentativen Auswahl zugleich das Lebenswerk eines Mannes, der während der Zeit, da die moderne Kunst als "entartet" diffamiert wurde, durch seinen Lehrer Peter Emil Noelle mit der Kunst des deutschen Expressionismus vertraut gemacht und seit Ende der 50er Jahre selbst zum engagierten Vermittler einer neuen Ausdruckskunst wurde. Mit seiner ersten, 1957 in München eingerichteten Galerie stand er "einer unübersehbar aufbrechenden jungen Generation und deren neuen expressiven Bildwelten" aufgeschlossen und verbunden gegenüber und erkannte in ihnen die "deutliche Gegenposition zur sich abzeichnenden Überintellektualisierung der bildenden Kunst" (van de Loo). 1997 beendete er seine Tätigkeit als Galerist.


Die Macht des Expressiven
19. März bis 10. Mai 2009