Die Entdeckung der Kindheit

Kindliches Lachen, erhitzte Wangen, vor Lebenslust blitzende Augen – wir haben viele Assoziationen, wenn wir an Kinder denken. Eine glückliche, erfüllte Kindheit gehört zu unseren schönsten Erinnerungen, und wir wünschen sie uns für die eigenen Kinder. Doch wie lange schon betrachtet man Kinder als ausgeprägte Persönlichkeiten in einer eigenständigen Lebensphase?

Die Entwicklung des Kinderporträts im 18. Jahrhundert zunächst in England, später auch auf dem Kontinent macht die veränderte Wahrnehmung der Kindheit deutlich. Lange Zeit wurden die Kinder vor allem als Garanten familiärer Kontinuität gesehen: In steifen Kleidern posieren sie vor dem Betrachter, Säulen und kostbare Attribute dokumentieren ihren hohen gesellschaftlichen Status, Wappen oder der im Hintergrund sichtbare Familiensitz lassen keinen Zweifel daran, dass auf ihnen die Hoff nung auf dynastischen Fortbestand ruht. Dies ändert sich im 18. Jahrhundert grundlegend. Die in ganz Europa rezipierten Schriften von John Locke (1632–1704) und später Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) formulieren ein neues Bild der Kindheit. Diese wird zunehmend als wichtige Lebensphase erkannt, in der die Kinder, von den Erwachsenen nur behutsam geleitet, sich selbständig entwickeln und auf diese Weise ihre Persönlichkeit ausprägen.

Das kürzlich für das Städel erworbene Porträt der »Kinder des Lord George Cavendish« von Thomas Lawrence bietet den Anlass zu dieser Ausstellung. Es steht beispielhaft für die neue Sicht auf die Kindheit, denn ohne die Begleitung von Erwachsenen und damit sich selbst überlassen, streifen die Kinder neugierig durch die Landschaft. Ihr natürliches Auftreten steht im Einklang mit der sie umgebenden ungebändigten Natur. Sehr genau beobachtete Lawrence die kindlichen Verhaltensweisen: Der Älteste, William, steht ernst und verantwortungsbewusst vor dem Betrachter, während sein jüngerer Bruder George vergnügt seinen Hut schwenkt. Beide Jungen flankieren ihre kleine Schwester Anne, deren selbstbewusster, kecker Blick verrät, dass sie der verwöhnte Mittelpunkt der Familie ist. Mit einem lockeren, schnellen Pinselstrich erfasste Lawrence die kindlichen Züge, aber auch die unwegsame Landschaft. Die fließenden Konturen, die leuchtenden, frischen Farben und die schimmernden Glanzlichter verstärken den Eindruck einer Momentaufnahme.

Als Begründer der modernen Porträtmalerei in England gilt Anthonis van Dyck, deshalb stehen seine Kinderporträts am Beginn der Ausstellung. Auch wenn Säulen und kostbare Stoffe noch den repräsentativen Charakter dieser Darstellungen unterstreichen, so gelang Van Dyck bereits die einfühlsame Wiedergabe des kindlichen Liebreizes. Im 18. Jahrhundert griffen Thomas Gainsborough und Joshua Reynolds auf dieses bewunderte Vorbild zurück. Ihre Kinderbildnisse zeigen die kleinen Persönlichkeiten häufig in der freien Natur, die an die zeitgleich entwickelten englischen Landschaftsgärten erinnert.


Die Entdeckung der Kindheit
Das englische Kinderporträt
und seine europäische Nachfolge
20. April bis 15. Juli 2007