Diagonale 08: Die Schere klafft auseinander

7. April 2008
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An den Rändern bewegt sich die österreichische Spielfilmproduktion. Durchkalkulierten kantenlosen Fernsehproduktionen und reinen Kommerzfilmen auf der einen Seite stehen verstiegene sich philosophisch gebende Produktionen auf der anderen gegenüber. Erfolgreich einen Mittelweg beschreiten nur Götz Spielmann mit "Revanche" und Dieter Berner mit "Berliner Reigen". Und bei den Dokumentarfilmen steht der Blick aufs Fremde, speziell auf Afrika, der Fokussierung aufs ganz Nahe wie das nur im salzburgisch-bayrischen Grenzraum gepflegte "Aperschnalzen" gegenüber.

Götz Spielmanns "Revanche" war der logische Gewinner des Großen Diagonale-Preises für den besten österreichischen Spielfilm. Kein anderer Film erzählte so klar und nüchtern und gleichzeitig so konsequent und zwingend, machte im Leisen Sehnsüchte und Spannungen unter der Oberfläche sichtbar, zeichnete so überzeugend Figuren und erweckte sie durch Einbettung in ein präzise eingefangenes, aber nie aufdringlich in den Vordergrund gerücktes Milieu zum Leben. Es gibt keine Szene zu viel bei dieser Schuld- und Rachegeschichte über den im Wiener Rotlichtmilieu arbeitenden Alex, der sich und seiner als Prostituierte arbeitenden ukrainischen Freundin durch einen Banküberfall in seinem im Waldviertel gelegenen Heimatdorf den Traum von einem besseren Leben verwirklichen will. Der Traum verkehrt sich ins Gegenteil, als bei dem Überfall die Freundin von einem Polizisten erschossen wird. Von Trauer erfüllt und von Rachegedanken getrieben zieht Alex im Bauernhof seines Großvaters ein und lernt dadurch die Frau des Polizisten kennen. Materiell besitzt dieses Paar alles, doch die Frau leidet unter ihrer Kinderlosigkeit und ihr Mann wird seit dem tödlichen Schuss von Schuldgefühlen gequält.

Wie Spielmann diese Figuren zusammenführt und wie er zeigt, dass eine kleine Handlung immer Kreise zieht – visualisiert schon am Beginn mit einem in einen Teich fallenden Stein, später mit einem im Wind wogenden Weizenfeld -, wie er ganz ohne Spektakel, ohne Action und Musik allein aus der Konzentration auf die Figuren Spannung aufbaut und über zwei Stunden durchhält, ist zweifellos als meisterhaft zu bezeichnen.

Eine Entdeckung war "Berliner Reigen", bei dem Dieter Berner zusammen mit seinen Schauspielschülern der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg Schnitzlers Drama ins Berlin der Gegenwart verlegte. - Nah an den natürlich und frisch gespielten Figuren, federleicht und luftig inszeniert, fast improvisiert wirkend ist dieses Rondo von zehn kurzen Episoden um Beziehungen, um Machtverhältnisse und Verführung, die jeweils durch einen Protagonisten miteinander verknüpft sind und deren Kreis sich am Ende schließt.

Mit diesen Filmen kann Harald Sicheritz´ Glattauer-Verfilmung "Darum" nicht mithalten. Der Gerichtsthriller wird hier auf den Kopf gestellt, wenn ein Mörder alles daran setzt verurteilt zu werden, die Öffentlichkeit dagegen an seine Schuld nicht glauben will. Ein spannendes Psychodrama hätte das werden können, doch dazu bleibt Kai Wiesinger in der Hauptrolle einfach zu blass und statt sich auf die Psyche dieser Figur zu konzentrieren versucht Sicheritz mit zahlreichen Twists die Handlung in Gang zu halten. Mit fetziger Musik soll zudem jede Szene aufgepusht werden und nebenbei will der Film auch noch Medienkritik üben und eine Farce auf die Justiz sein. – Weil alles hier nur behauptet wird, aber nichts glaubwürdig ist, bleibt "Darum" ein papierenes und nur am Anfang spannendes Konstrukt.

Dieser Kommerzproduktion stehen sich anspruchsvoll gebende Filme wie Peter Wagners "Die eiserne Grenze" und Bernhard Kammels "Die Tochter" gegenüber. Beide verlieren sich aber in unerträglicher Pseudo-Philosophie. Tiefsinn wird behauptet, wo nur Leere herrscht. Wagner lässt am ehemaligen Eisernen Vorhang eine österreichische Volksschullehrerin sich endlos mit einem ungarischen Grenzoffizier unterhalten und versucht durch Heben auf eine Märchenebene sowie Mischung von Traum und Realität und Schwarzweiß und Farbe Tiefsinn des visuell miserablen Videofilms vorzutäuschen.

Kammel beweist dagegen immerhin extremen Stilwillen, wenn er in schier endlosen Plansequenzen und bestechendem Schwarzweiß filmt. So ein radikales Vorgehen weckt am Beginn zweifellos Interesse, doch wenn dann Tochter und Mutter nur am Tisch sitzen und irgendwie über den seit 25 Jahren verschollenen Vater reden, wenn die Tochter endlos durch den Wald und die Kamera dabei über den Boden streift, aber so wenig fündig wird wie die Tochter bei ihrer Suche, dann fragt man sich zunehmend, was das Ganze soll. – Nur zu einem Schluss kann man im Grunde kommen: Da hat offensichtlich einer ein Faible für die Filme von Andrej Tarkowskij, ist aber im Gegensatz zum großen Russen nicht in der Lage die Bilder auch mit Rätseln oder mit Bedeutung, die das Denken des Zuschauers anregen, aufzuladen.

Handfesteres bieten da schon die Dokumentarfilme - den großen Diagonale-Preis erhielt "Halbes Leben" -, bei denen ein starkes Interesse für Fremdes auffällt. Nachdem Othmar Schmiderer im Eröffnungsfilm "back to africa" afrikanische Künstler bei ihrer Rückkehr in ihre Heimat begleitete, Katharina Weingartner in "Sneaker Stories" sich jugendlichen Basketballträumen nicht nur in Wien, sondern auch in New York und Ghana widmete, überzeugte Georg Misch mit "Die Reise nach Mekka". Sorgfältig recherchiert, mit Familienfotos und prägnant gesetztem Off-Kommentar, vor allem aber mit zahlreichen Interviews und einer Reise um die halbe Welt zeichnet Misch den Lebensweg von Muhammad Assad nach, der als Jude 1900 in der Habsburgermonarchie geboren wurde, 1926 aber nach Palästina ging und zum Islam konvertierte, dann wesentlich an der Gründung Pakistans beteiligt war und immer, geprägt von der europäischen Aufklärung, für einen liberalen Islam eintrat. - Gekonnt verknüpft Misch Einst und Jetzt, macht ausgehend von der Lebensbeschreibung heutigen Fanatismus und Konfliktfelder wie die österreichische Ausländerfeindlichkeit, den Nahostkonflikt, den islamischen Fundamentalismus ebenso wie den amerikanischen Antiislamismus sichtbar und stellt all diesen fanatischen Positionen die Offenheit Azads und seine Forderung selbstständig zu denken gegenüber.

Den Bogen zwischen Europa und Afrika spannt auch Kurt Mayers sorgfältiges, aber etwas zu lang geratenes Porträt von Karlheinz Böhm ("Mister Karl"), während der junge Salzburger Martin Hasenöhrl in seiner nächsten Umgebung mit dem "Aperschnalzen" ein Thema gefunden hat, das durch den genauen Blick plötzlich exotisch und fremd wirkt. Nur aus kurzen Fernsehberichten kennt man im Grunde den Brauch des Peitschenknallen, mit dem im salzburgisch-bayrischen Grenzraum ursprünglich der Winter ausgetrieben werden sollte. Indem Hasenöhrl in "drent und herent" diesem Brauch 90 Minuten widmet, hautnah an einer aus neun Mann bestehenden Mannschaft aus Gois mit der Kamera dran bleibt, ihre Vorbereitung für den großen Wettbewerb akribisch schildert, zeigt wie hier mehrmals wöchentlich trainiert wird und die Ergebnisse am Computer studiert werden, sichtbar macht, welche Rolle die Konzentration spielt und dass es nur um rund acht Sekunden geht, vermittelt er in der absoluten Konzentration auf das Thema faszinierende Einblicke in diesen inzwischen als Leistungssport betriebenen und seines ursprünglichen Sinns enthobenen Brauchs.

Auf eine oft mit Kitsch verbundene Tradition blickt auch Karin Berger mit "Herzausreißer – Neues vom Wienerlied". Ausschnitte aus Hans Moser-Filmen und einem Heinz Conrad-Show fehlen dann auch nicht, doch durch den analytischen Zugang, in der wohlüberlegten Mischung aus erklärenden Interviews mit modernen Interpreten von Wienerliedern und Musikdarbietungen, aus der Vorstellung verschiedener Gruppen und der Instrumente wie Akkordeon und Zither, sowie durch Herausarbeitung des Einflusses der Gedichte von H.C. Artmann und Ernst Jandl verfällt "Herzausreißer" nie in Kitsch, sondern macht vielmehr ähnlich wie Stefan Schwietert in "Das Alphorn" oder „Heimatklänge“ nicht nur die Vielfalt und die Möglichkeiten dieses Volkslied, sondern auch dessen potentielle Bedeutung für die Identitäts- und Heimatfindung deutlich.