Diagonale 08: Das Leben und das Kino

6. April 2008
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"Halbes Leben" heißt der eine Film, "Ein halbes Leben" der andere. – So ähnlich die Titel sind, so grundverschieden sind Marko Doringers Dokumentarfilm und Nikolaus Leytners Spielfilm. Während der 30jährige Doringer radikal persönlich Zwischenbilanz seines Lebens zieht und damit auch Lebensentwürfe kritisch hinterfragt, legt Leytner einen durchkonstruierten, ganz auf die Hauptdarsteller setzenden TV-Film vor. – Echte Kinoqualitäten besitzt dagegen Christian Froschs Thriller "Weiße Lilien – Silent Resident".

Eine Frau hat sich aus dem 11. Stock einer anonymen Hochhaussiedlung gestürzt. Der Gründer lobt seine "Gated Community" als vorbildliche zukunftsweisende Wohnform: Die sozialen Schichten sind klar getrennt, Sicherheitskräfte sorgen für Ordnung und das Leben läuft in Ruhe ab. – Die Bilder der endlosen kalten Betonfassade, die sterilen Computerarbeitsplätze und die von kaltem Neonlicht beleuchteten kahlen Gänge erzeugen in Christian Froschs Thriller freilich eine andere Stimmung.

Dazu kommt eine Geschichte, die das behauptete Idyll zunehmend erschüttert: Da wird Hannah von ihrem Mann verprügelt und nach ihrem Umzug in eine andere Etage, die im Grunde sozial Bessergestellten vorbehalten ist, von ihm mittels Videoaufzeichnungen bald ausfindig gemacht. Eine Arbeitskollegin, die nicht alles schweigend hinnimmt, landet im Gefängnis und ihr Lebensgefährte wird als Terrorist verhaftet. Zweifel kommen auch auf, wer für den Anschlag auf den Gründer der Siedlung verantwortlich ist: Waren es wirklich von Gegner der Anlage oder vielleicht doch Mitarbeiter der Führungsetage. Nicht nur die heile Fassade zerbricht für Hannah, sondern auch die klare Trennung von Traum und Realität und die Gewissheit ihrer eigenen Identität.

Deutlich geschult am Kino des David Lynch und Dystopien des amerikanischen Kinos orientiert sich Christian Frosch. Doch so visuell überzeugend er diese Welt beschwört und so bestechend elegischer Jazz eine melancholische Stimmung evoziert, so sehr verliert sich "Weiße Lilien" auch in einem wuchernden Gestrüpp von Motiven und Themen. In der Überzeichnung der Figuren und Situationen wirkt der Film an vielen Stellen nicht wie eine Dystopie, sondern vielmehr wie eine Satire auf Filme dieses Typs.

Nicht weniger am amerikanischen Kino orientiert sich auch Ernst Gossner in dem in Los Angeles und auf Englisch gedrehten "South of Pico". Ausgehend von einem Unfall wird in fünf ineinander geschnittenen, aber durch nichts als durch den Unfall verbundenen Geschichten die Vorgeschichte der Beteiligten erzählt, ehe der Film am Ende wieder in den Unfall und eine Eskalation der Gewalt mündet. Überzeugend gespielt und inszeniert sind die Episoden zwar an sich, doch die Erzählweise mit mehreren parallelen Handlungssträngen ist nicht erst seit "L.A. Crash" inzwischen etwas ausgelaugt, und Gossner gelingt es auch nicht die Episoden wirklich zu verschränken. So bleiben am Ende fünf einzelne Geschichten von Frustration, doch ihre Addition fügt sich nicht zu einem großen Gesamtbild. Das liegt auch daran, dass Gossner die Probleme mehr behauptet, als sie wirklich zu verdichten und spürbar zu machen. Man langweilt sich zwar aufgrund des raschen Szenenwechsels zwar kaum, folgt aber auch nicht wirklich gebannt dem Geschehen.

Immerhin haben Froschs und Gossners Film durchaus Kinoqualitäten, die Nikolaus Leytners "Ein halbes Leben" leider völlig fehlen. Dass diese Geschichte um einen Sexualstraftäter und den Vater eines seiner Opfer fürs Fernsehen produziert ist, sieht man dem Film nicht nur in der Dominanz der Großaufnahmen, sondern auch in der biederen Inszenierung, die jede Irritation, jeden Bruch und jede Kante vermeidet, an. Frauen haben in diesem Film nur Zuträgerfunktion für Matthias Habich, der als Vater eines Mordopfers 20 Jahre lang nicht über den Verlust der Tochter hinwegkommt, und Josef Hader, der kaum minder unter seiner Tat leidet. Nichts außer den über einen Zeitraum von 14 Jahren parallel erzählten Geschichten dieser stumm leidenden Schmerzensmänner interessiert Leytner. Mit Fortschritten der DNA-Analyse hält er die Tätersuche zwar in Gang, doch die Figuren gewinnen mit Fortdauer nicht an Tiefe, sondern die Handlung verflacht eher. So eindringlich dabei auch Josef Hader den Täter spielt, so fragwürdig ist gerade angesichts dieser schauspielerischen Leistung die Stilisierung des Täters zum Opfer bei gleichzeitiger konsequenter Aussparung der Perspektive der Opfer dieses Triebtäters.

Nicht minder glatt und mit schnellen Schnitten und zahlreichen Großaufnahmen sowie einem Mix aus harmlosen Scherzchen und weichgespülter Dramatik fürs Hauptabendprogramm des Fernsehens konzipiert ist Wolfgang Murnbergers "Der schwarze Löwe". Was hätte ein Sozialrealist wie Ken Loach aus der Geschichte nigerianischer Asylanten, die einem niederösterreichischen Provinzfußballclub zu einem Höhenflug verhelfen, gemacht. Bei Murnberger wird aber nichts gezeigt, sondern alles nur behauptet, verflüchtigen sich rassistische Vorurteile - die der Film in seinen Scherzen gleichwohl teilweise wieder pflegt - in Windeseile, wird im Schnellverfahren Flüchtlingselend abgehandelt, darauf verwiesen, dass auch Österreicher mit Drogen dealen und nebenbei eine Familiengeschichte erzählt. - Gutgemeint ist das vielleicht, doch in der Hauruck-Dramaturgie wird weniger auf reales Flüchtlingselend und die triste Situation von Asylanten aufmerksam gemacht, als vielmehr diese Probleme verharmlost.

Starker Gegenpol zu diesen beiden durchkonstruierten TV-Filmen ist Marko Doringers radikal persönlicher, in seiner Unverfälschtheit und Echtheit, aber auch in seiner Ironie und Leichtigkeit beglückender Dokumentarfilm "Halbes Leben". Wie hier der Regisseur selbst anlässlich seines 30. Geburtstags, dem Ziehen seines ersten Backenzahns und dem Feststellen einer Sehschwäche auf sein Leben blickt und mit Lebenskonzepten seiner Freunde und seiner Eltern vergleicht, das wirft den Zuschauer unmittelbar auf sich selbst zurück und macht gleichzeitig in der Gegenüberstellung der auf Sicherheit bedachten Lebenskonzepte der Eltern-Generation mit den nicht so klar strukturierten Lebensplänen der heute 30jährigen gesellschaftliche Entwicklungen sichtbar.

So ernst die Themen sind, so leicht, frisch und unbefangen ist Doringers Umgang damit und der Gefahr seine Interviewpartner bloßzustellen entgeht er durch den liebevollen, von Sympathie getragenen Blick. Nie hat man das Gefühl, dass sich der Regisseur über seine Gegenüber erhebt und auf sie hinabschaut, vielmehr fühlt er mit ihnen mit. Dramaturgisch ist das wohl überzeugend gestaltet, doch die Menschlichkeit und der trotz allem lebensbejahende Ton führen dazu, dass der Zuschauer das Kino glücklicher verlässt, als er hineingegangen ist. – Großen Film macht das noch keinen, aber zumindest einen sehr sympathischen.