Der Mythos der "Frontier"

31. August 2007
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Der Western ist nahezu so alt wie das Kino selbst. Nicht nur Geschichten wurden in diesem Genre erzählt, sondern Amerika erfand sich darin auch mythisch überhöht und verklärt seine eigene Geschichte von der Eroberung und Zivilisierung des Westens.

Äußere Bewegung ist ein zentrales Moment des Kinos und so kann es kaum verwundern, dass sich das Genre des Western als erstes entwickelte, geht es doch darin immer um Verfolgungsjagden zu Pferd oder den Bau der Eisenbahn, also um Bewegung, andererseits natürlich auch um Action. Immer nach vorwärts gerichtet ist die Erzählweise, Rückblenden gibt es im Gegensatz zu den fatalistischen Genres Melodram und Film noir im Western kaum. Diese Linearität korrespondierte aber wiederum mit der Aufbruchsstimmung, der Zukunftsorientierung und dem Optimismus der jungen Nation.

Historisch situiert sind die Western zwischen der Gründung der USA im Jahre 1776 und dem Anbruch des Industriezeitalters, vorwiegend aber in der Zeit zwischen 1865 und 1890. Mythisiert wird im Genre die Landnahme mit dem Zug nach Westen, der Kampf gegen die Indianer, der erst im Spätwestern der 1960er und 1970er Jahre einer scharfen Kritik unterzogen wurde. Zum zentralen Schauplatz wird somit die "Frontier", die Stadt an der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, die aber auch an der Scheidelinie und im Grenzbereich zwischen dem Recht des Stärken und der staatlichen Macht, zwischen bürgerlicher Ordnung und absoluter Freiheit des Individuums liegt.

Frauen spielen im Western – von wenigen Ausnahmen wie Sam Fullers "Forty Guns" (1957) oder Nicholas Rays "Johnny Guitar" (1954) abgesehen – nur untergeordnete Rollen. Sie kommen entweder als Barmädchen, hinter denen sich in der Realität Prostituierte verbergen, oder gelegentlich noch als kultivierte Städterinnen aus dem Osten, die ein Rancher zwecks Heirat in den Westen holt, vor. Die Einrichtungen von Ehe und Familie finden sich in der vor- oder außerbürgerlichen Welt des Western nur am Rande. Im Mittelpunkt steht der Westerner: der einsame Cowboy, der pflichtbewusste Sheriff, der Trapper, der Outlaw oder der Anführer eines Trecks.

Konflikte bauen sich an dieser "Frontier" auf, weil der Freiraum des aus der Zivilisation in dieses Niemandsland geflüchteten Abenteurers nun auch hier eingeschränkt wird, weil der Westerner, der die Zivilisation erst ermöglichte, bald durch die bürgerliche Ordnung in seiner Freiheit eingeschränkt wird und weil sich im zunächst egalitären Grenzland bald kapitalistische Tendenzen ausbreiten, wenn ein mächtiger Rancher die kleinen Farmer bekämpft und das Kapital Macht auch über die Stadt, also die Politik, ausübt.

Die Trennung in Outlaw hier und anständigen Cowboy oder Sheriff dort kann erst mit der Durchsetzung des Gesetzes greifen, davor gibt es diese Unterscheidung nicht. Nicht nur in John Fords "The Man Who Shot Liberty Valance" (1961), sondern auch in den Spätwestern von Sam Peckinpah wird deutlich, dass beide ursprünglich auf der gleichen Seite standen, dass erst die Ausbreitung der Zivilisation und des Gesetzes zu ihrer Trennung führten, der eine zum Outlaw wurde, weil er am alten gesetzlosen Leben festhielt, der andere sich für die Einordnung in die Gesellschaft entschied.

Zahlreiche Western thematisieren diese Bruchstelle und den Positionswechsel des Helden oder zeichnen diese Westerner als zerrissene Figuren. Als positiven Outlaw im Kontrast zu einer heuchlerischen bürgerlichen Gesellschaft charakterisiert John Ford den vom jungen John Wayne gespielten Ringo in "Stagecoach" (1939), den André Bazin mit dem Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner verglich. Dem Happy-End, das Ringo in diesem Film mit der Prostiuierten Alice außerhalb der Gesellschaft finden wird, steht die Ausgeschlossenheit des wiederum von Wayne gespielten Ethan Edwards in John Fords 1956 entstandenen "The Searchers" gegenüber.

Die Ansiedlung von Familien und den Aufbau von Farmen in der Region um das Monument Valley hat dieser Captain Ahab der Prärie wohl ermöglicht, aber ihm bleibt diese Welt verschlossen. Legendär die Einstellung durch die offene Tür hinaus in die Weite, aus der sich Edwards/Wayne dem Haus nähert, aber die Schwelle nicht überschreiten wird, sondern am Ende einem jungen Paar den Vortritt lassen wird und selbst wieder in die Weite oder ins Nichts der Selbstauflösung verschwinden wird. Wie sein Kontrahent, der Indianerhäuptling Scar, ist er in diesem vielschichtigen Meisterwerk ein zerrissener heimatloser Wanderer zwischen den Welten.

Überrollt von der Zeit wird Wayne aber schon in Howard Hawks´ "Red River" (1948), in dem er stur einen Viehtreck durchführen will, obwohl schon eine Eisenbahnlinie existiert. Nicht nur zwei Generationen prallen hier aufeinander, wenn sich Tom Dunson am Ende mit seinem Ziehsohn (Montgomery Clift) prügelt, sondern auch Tradition und Moderne, stures Festhalten an Plänen und flexibles pragmatisches Agieren.

Zutiefst zerrissen sind auch Figuren, die James Stewart in den harten Western von Anthony Mann spielt: bohrende, sich nahezu selbst zerstörende rachsüchtige Männer. Und der Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft ist schließlich auch ein zentrales Thema in Fred Zinnemans "High Noon" (1952). Kopf und Kragen darf der von Gary Cooper gespielte Sheriff für die Grenzstadt riskieren, doch Hilfe darf er von den Bürgern keine erwarten. Voll Verachtung quittiert er am Ende den Job, wirft den Sheriffstern in den Staub und verlässt mit seiner Frau die Stadt.

Von der Banditengeschichte "The Great Train Robbery" (1903) über die großen Epen zu Eisenbahnbau ("The Iron Horse", John Ford, 1924) und Landnahme ("The Covered Wagon", James Cruze, 1923; "The Big Trail", Raoul Walsh, 1930) und die heroischen, Mythen bildenden und zementierenden Western zwischen 1939 und 1946 ("Jesse James", Henry King, 1939; "Buffalo Bill", William A. Wellman, 1944, "My Darling Clementine", John Ford, 1946) folgten in den kritischeren und erwachsenen Western der 50er Jahre, ehe ab 1960 die Mythen nicht nur im Italo-Western, sondern auch im amerikanischen Spätwestern demontiert wurden.

Brave Lonesome Cowboys
Western-Retrospektive im Kinok St. Gallen