Der große Meister Thielemann und Opernstar Garanča beim ersten Orchesterkonzert der Salzburger Festspiele

2. August 2022 Martina Pfeifer Steiner —
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Das vollendete Rhapsodie-Fragment von Brahms und Bruckners unvollendete Neunte – der vierte Satz blieb Fragment und fehlt – bildeten als Auftakt zu den Orchesterkonzerten bei den Salzburger Festspielen ein vollkommenes Erlebnis wie Ereignis.

Bei der Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester von Johannes Brahms (1833–1897) bezieht sich die Bezeichnung "Fragment" wohl auf die Bruchstücke von drei der elf Strophen ungleicher Länge aus Goethes "Harzreise im Winter", denn an musikalischer Logik in der Folge von Rezitativ, Arie und Schlusschor ist die Erzählung über die Tragödie eines Einsamen ausbalanciert und rund. "Aber abseits, wer ist's? Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, Hinter ihm schlagen Die Sträucher zusammen, Das Gras steht wieder auf, Die Öde verschlingt ihn." Noch viel länger wollte man der wunderbaren Mezzosopranistin Elīna Garanča und den Männerstimmen des Wiener Staatsopernchors in dieser schicksalsschweren dunklen Klangatmosphäre folgen, die Aussicht auf Bruckners Neunte steigerte jedoch Vorfreude und Erwartung.

Anton Bruckner (1824–1896) soll nach Aussagen seines Arztes seine 9. Sinfonie "dem lieben Gott" gewidmet haben. Er ahnte, dass dies seine letzte sein würde, und machte es sich mit der Tonart d-Moll – derselben wie "die" Neunte des von ihm zutiefst verehrten Ludwig van Beethovens – zusätzlich schwer. Annähernd zehn Jahre arbeitete er daran und konnte den vierten Satz bis zu seinem Tod doch nicht fertig bringen. Mit "Abschied vom Leben" hat Bruckner selbst die absteigende Choralpartie bezeichnet, die im Adagio des dritten Satzes zum Thema überleitet. "Bruckner hatte vor, im letzten Satz der neunten Sinfonie eine große Fuge oder ein großes Arrangement mit vielen Themen aus vergangenen Symphonien zu schreiben und hatte sich wohl eine kontrapunktische Aufgabe gesetzt, die wahrscheinlich so gut wie unlösbar war", sagt der große Dirigent Christian Thielemann in einem Interview mit BR-Klassik. Er gilt als "der" Bruckner-Spezialist, und für ihn ist es eine sehr gute Version, den überirdisch schönen dritten als Schlusssatz stehen zu lassen.

Welche Worte vermögen das Konzerterlebnis im Salzburger Großen Festspielhaus adäquat vermitteln und was die Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann musikalisch unvergleichlich ergreifend zu erzählen imstande sind: Feierlich misterioso / Scherzo. Bewegt, lebhaft – Trio. Schnell / Adagio. Langsam, feierlich. Mit den Satzbezeichnungen sei hiermit beholfen. Behelfen können sich aber auch alle, die nicht dabei sein konnten, mit dem 2024 – pünktlich zum 200. Geburtstag – erscheinenden kompletten Bruckner-Zyklus auf DVD (UNITEL Edition), der in dieser erlesenen Konstellation nun mit der Aufführung der letzten Symphonie in Salzburg abgeschlossen ist.

Das Projekt "Bruckner 11" umfasst die erste Gesamtaufnahme der Wiener Philharmoniker aller Bruckner-Symphonien, die mit Thielemann bei den Salzburger Festspielen und im Wiener Musikverein aufgeführt wurden. Aber warum elf? Die f-Moll-Symphonie (die sogenannte Studien-Symphonie) und die "Nullte" (d-Moll) sind Frühwerke, die weder der Dirigent noch das Orchester jemals zuvor gespielt hatten. Pandemiebedingte Absagen ermöglichten 2021 tatsächlich die Einstudierung und Aufnahme dieser Frühwerke, die als „wahre Entdeckungen“ und vollwertige Symphonien gewertet werden dürfen.

Johannes Brahms, Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53
Anton Bruckner, Symphonie Nr. 9 d-Moll WAB 109
Elīna Garanča Mezzosopran
Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Wiener Philharmoniker
Christian Thielemann Dirigent