Den Bach runter?

12. Mai 2010 Rosemarie Schmitt
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"Ich möchte nicht in einer Welt ohne Kathedralen leben. Ich brauche ihre Schönheit und Erhabenheit. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt." Dies ist ein Zitat des Schriftstellers Pascal Mercier aus seinem Roman "Nachtzug nach Lissabon." Und ebenso geht es mir mit der Musik von Johann Sebastian Bach. Ich möchte nicht ohne seine Kompositionen leben. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt und auch gegen das laute Gebrüll des Lebens, gegen die Lächerlichkeit des schnöden Alltags.

Ich liebe es, während ich lese, Musik zu hören. Bei der Lektüre von Pascal Mercier fiel meine Wahl auf die im April dieses Jahres bei dem EMI-Label Virgin veröffentlichte CD der Bach Messen. Nicht, daß ich ein streng gläubiger Mensch wäre. Und die kürzlich zutage getretenen Ereignisse lassen auch mich am katholischen Glauben stärker zweifeln denn je. Jedoch hat Bachs Musik, haben Bachs Messen für mich einen gänzlich anderen Bezug. Wie Unrecht geschähe es dem wunderbaren Komponisten, würde man seine sakralen Werke boykottieren aufgrund der Schlagzeilen vergangener Wochen.

Wenn es auch mit der katholischen Kirche den Bach runter zu gehen scheint, so bin ich der Überzeugung, daß der Zauber und die Ruhe der geistlichen Musik ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Sie glauben mir etwa nicht? Dann möchte ich Sie einladen, vielleicht sogar mit dem "Nachtzug nach Lissabon", auf eine Reise in die Stille der Musik. Die jüngeren Leser werden der Aufforderung „eine Runde zu chillen“ vielleicht eher folgen. Sei es drum, gemeint ist das gleiche.

Philippe Herreweghe lässt den Chor und das Orchester des Collegium Vocale Gent wohlbedacht und präzise vortragen. Bach hätte sicherlich keine Einwände gehabt. Als er diese Messen (BWV 233, 236, 235, 243,238/ Titel-Reihenfolge der CD) gegen Ende der 1730er Jahre schrieb, war er bereits Anfang fünfzig. Ich liebe den Klang dieser Reife, wie sie nur ein gelebtes Leben hervorzubringen vermag. Er komponierte sie zu einer Zeit, da in Italien der wohl berühmteste Geigenbauer Antonio Stradivari starb, und der im Jahre 1735 geborene Sohn Johann Sebastian Bachs, Johann Christian, vielleicht grade mal das Laufen gelernt hatte. Und zu einer Zeit, in der die französische Tänzerin Maria Anna de Camargo erstmals in einem kurzen Ballettrock eine Bühne betrat.

Welch ein Aufruhr, welch Entsetzen muss diese Ungeheuerlichkeit ausgelöst haben. War es etwa die Zeit, in der die Zukunft begann? Unsere Zukunft der kurzen Röcke, der tiefen Ausschnitte und Einblicke, der unsäglichen String-Tangas und Arschgeweihe, die der ständigen Zurschaustellung der weiblichen Körper? Und mit der Scham, da ging es den Bach runter (bitte verzeihen Sie, werter Johann Sebastian, es ist lediglich eine Redewendung, die mit Ihnen nicht das Geringste zu tun hat). Lebte man derlei Schmutzigkeiten bislang doch meist hinter verriegelten Garderoben oder sonstigen Türen. Wenn sie mich fragen: da hätten sie auch bleiben können. Auch dafür brauche ich die Musik Bachs. Dafür oder dagegen? Gegen die Scheußlichkeit so mancher Bilder, die mir Tag für Tag und ungefragt um die Augen und Ohren geschlagen werden!

Wissen Sie, wo Johann Sebastian Bach zwischen seinem 10. Und 15. Lebensjahr lebte? In Ohrdruf! Doch, Hand druff! Da dessen Stiefmutter nach dem Tod des Vaters nicht imstande war alleine für die Kinder zu sorgen, lebte Johann Sebastian bei seinem ältesten Bruder in Ohrdruf. Nett, nicht? So, und nun genug gelesen. Denn wollten Sie sich nicht ein gemütliches Plätzchen suchen? Es muss ja nicht im Nachtzug nach Lissabon sein, obwohl sehr empfehlenswert, um die Bach-Messen mit dem Collegium Vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe zu geniessen? Für diese Einspielung, für die Auswahl und die Interpretation, gibt es von mir einen herzlichen ClassiCuß! Und für Sie, verehrter Herr Bach, gibt es zwei. Ach, was sag ich? Hundert!

...ich möchte nicht ohne seine Kompositionen leben. Ich brauche sie gegen die Gewöhnlichkeit der Welt, und auch gegen das laute Gebrüll des Lebens, gegen die Lächerlichkeit des schnöden Alltags.

Ich wünsche Ihnen wunderbare All-Tage!
Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt