Demontage amerikanischer Mythen

Der Western sei das amerikanische Kino par excellence, urteilte der französische Filmkritiker André Bazin. Verklärt wurde in diesem Genre die amerikanische Geschichte. Die Eroberung des Westens, die Verbreitung der weißen Zivilisation, Konflikte zwischen Großgrundbesitzern und kleinen Farmern, zwischen Outlaws und Gesetzeshütern waren wiederkehrende Motive. Erst in den 1960er Jahren wurden im so genannten Spätwestern kritischere und pessimistischere Töne angeschlagen.

Vielfältig sind die Ursachen für diesen Umbruch. Einerseits bahnte sich ein Generationenwechsel bei den Regisseuren an. Die Männer, die den Western geprägt hatten wie Allan Dwan oder Raoul Walsh drehten um 1960 ihre letzten Filme, andere wie John Ford und Howard Hawks begannen in dieser Zeit mit ihrem Spätwerk. Aber nicht nur die Regisseure, auch klassische Westernstars wie John Wayne, Randolph Scott oder Joel McCrea waren in die Jahre gekommen.

Andererseits muss aber auch die gesellschaftliche Entwicklung in die Betrachtung mit einbezogen werden. Im Alterungsprozess des Western spiegelt sich auch der Niedergang einer Nation, der Verfall des American Dream vom Land der Tapferen und Freien und im historischen Gewand dieses Genres wird indirekt auch Kritik am Vietnam-Engagement geübt.

Gleichzeitig war für die Generation der 60er Jahre die Eroberung des Westens aber auch kein Thema mehr. "Am Rande eines neuen Grenzlands – der Frontier der 60er Jahre" sah John F. Kennedy die USA und forderte jeden einzelnen auf "ein Pionier dieser neuen Grenze zu sein". Unübersehbar hängt diese Neuorientierung mit dem Sputnik-Schock (1957), dem ersten bemannten Raumflug durch die Sowjets (1961) und dem Wettlauf um die Vorrangstellung im All zusammen.

Vom amerikanischen Westen in das Weltall wird das amerikanische Kino seine Helden versetzen. Philip Kaufman stellt in "The Right Stuff - Der Stoff, aus dem die Helden sind" (1983) eine direkte Analogie von Cowboy und Astronaut her, Peter Hyams verlegt in "Outland - Planet der Verdammten" (1980) Fred Zinnemanns Klassiker "High Noon" auf eine Raumstation und Clint Eastwood schafft in seinem Alterswerk "Space Cowboys" (2000) den Konnex zum Western allein schon durch den Titel.

Dieser Umbruch manifestiert sich in den Western der 60er und 70er Jahre auf vielfältige Weise. Von Aufbruchstimmung ist in diesen Filmen nichts mehr zu spüren. Desillusioniert werden die gesellschaftlichen Umwälzungen geschildert. Die Helden sind vielfach alt und müde, sie müssen einer neuen Generation und auch einer neuen Welt Platz machen.

Nirgends zeigt sich das deutlicher als in Sam Peckinpahs "The Ballad of Cable Hogue" ("Abgerechnet wird zum Schluss", 1970) in dem der alte Westerner am Ende von einem Auto überrollt wird. Wie kein zweiter hat sich Peckinpah immer wieder mit der Zerstörung und dem Untergang des alten Westens – dem zentralen Thema des amerikanischen Spätwestern im Gegensatz zum zerstörten Westen im Italo-Western - auseinandergesetzt.

In die prächtigen Farben des Spätherbsts taucht Lucien Ballards Kamera Peckinpahs Meisterwerk "Ride the High Country" ("Sacramento", 1962). Auch hier sind die alternden Westerner Steve (Joel McCrea) und Gil (Randolph Scott), die einen Geldtransport begleiten müssen, Relikte einer untergehenden Epoche. Sie sind müde, brauchen zum Lesen eine Brille und kommen nicht mehr alleine in den Sattel. Die Stadt ist in diesem Film zum Jahrmarkt geworden, Autos und Fahrräder bestimmen das Straßenbild und ein Kamel gewinnt ein Rennen gegen ein Pferd, das Symbol des Westens schlechthin.

Auch in dem ebenfalls von Peckinpah inszenierten, für seine krassen Gewaltszenen berüchtigten "The Wild Bunch" (1968) ist die Zeit der Desperados eigentlich schon vorüber. Im Westen der USA ist im Jahre 1914 für sie kein Platz mehr. Nach einem Überfall auf das Büro einer Eisenbahngesellschaft an der texanisch-mexikanischen Grenze fliehen sie nach Mexiko, geraten dort in die Revolutionswirren und erklären sich bereit, für den verschlagenen General Mapache einen Waffentransport zu überfallen.

In einer Welt der Maschinen, der Geschwindigkeit und der großen Gesellschaften stellt dieser "wilde Haufen" mit seinen naiven Vorstellungen von Ehre, Männlichkeit und Kameradschaft ein Anachronismus dar. Nicht bereit sich an die neuen Verhältnisse anzupassen rennen sie in den Tod. – Legendär ist der finale Showdown, den der Kameramann Lucien Ballard aus mehreren Perspektiven gleichzeitig und in Slow-Motion aufnehmen ließ und der durch die Montage von Lou Lombardo zu einem grandiosen Ballett des Todes wurde.

Sanfter und melancholischer, aber auch bewegender erzählt John Ford, der mit zahlreichen Filmen wesentlich zur Legendenbildung des Westens beigetragen hat, in "The Man Who Shot Liberty Valance" (1961) vom Untergang der alten Welt, von einem alten Rancher und einem jungen Politiker, aber auch von Legende und Wahrheit.

Mit Tom Doniphon (John Wayne) und Ransom Stoddard (James Stewart) treffen hier nicht nur zwei Generationen, sondern auch zwei Stufen der Eroberung des Westens aufeinander. Doniphon hat als Frontier die Grundlagen für die Zivilisation geschaffen, doch der Politiker Stoddard, dem Doniphon auch die Frau, die er liebt, überlassen muss, wird für die Institutionalisierung von Recht und Ordnung sorgen.

Prägte das Monument Valley und die Weite des offenen Landes die früheren Filme Fords, so dominiert hier die Enge und Geschlossenheit der Kleinstadt. – Für Leute wie Doniphon oder auch den Banditen Liberty Valance, der Doniphon im Grunde viel näher steht als Stoddard, ist in dieser Welt und in diesem Film, der unbestritten zu den schönsten der Filmgeschichte zählt, kein Platz mehr.

14 Jahre später traten James Stewart und John Wayne nochmals gemeinsam auf. In Don Siegels "The Shootist" (1976) möchte der selbst schon vom Krebs gezeichnete John Wayne als schwerkranker Revolverheld nur in Ruhe sterben und wird dann doch zu einem letzten Showdown gezwungen.

Den Mythos vom strahlenden Gunfighter demontiert Don Siegel wie Frank Perry, der sich in "Doc" (1970) mit der Beziehung von "Doc" Holliday und seinem Freund Wyatt Earp auseinandersetzt.

Realistisch schildert Perry die Übergangszeit zwischen dem Wilden Westen und der aufkeimenden modernen Zivilisation und entmythologisiert durch sorgfältige Charakter- und Milieuzeichnungen das Genre. Dem unangepassten Außenseiter Hollyday stellt er den geschäftstüchtigen Opportunisten Wyatt Earp gegenüber.

Die Mythen vom Heldentum zu zerstören, ist auch Robert Altmans Ziel mit "McCabe and Mrs. Miller (1970). Kritisch beleuchtet der große Satiriker das klassische Motiv, dass große Gesellschaften die ersten „heroischen“ Pioniere verdrängten. Altmans Blick auf diese Pionierzeit ist desillusioniert. Atmosphärisch dicht arbeitet er die Hässlichkeit des Schauplatzes, einer um 1900 im Nordwesten der USA entstehenden Bergarbeitersiedlung, heraus. McCabe (Warren Beatty), der in diesem neuen Kaff als Bordellbesitzer sein Glück machen will, ist kein strahlender Held, sondern ein von Prostitution und Betrug lebender Berufsspieler und Mrs. Miller (Julie Christie) ist eine geschäftstüchtige Dirne.

Von der Zivilisation abgewendet hat sich dagegen die Hauptfigur in Sydney Pollacks in der Mitte des 19. Jahrhunderts spielendem "Jeremiah Johnson" (1972). Als Trapper zieht er sich in die Berge des Colorado Territory zurück. Pollack greift den amerikanischen Mythos von der Begegnung des weißen Mannes mit der rauen Wildnis wieder auf, interpretiert ihn aber neu, indem hier nicht die Umwelt vom Menschen geformt wird, sondern der Mensch von der Umwelt. Der Trapper ist in dem vom Geist der 68er Bewegung beeinflussten Film auch nicht Vorbote der Zivilisation, sondern ein Außenseiter, der sich durch sein Vordringen in eine lebensfeindliche Wildnis, die in großartigen Bildern eingefangen wird, den gesellschaftlichen Zwängen entzieht.

Der Ernsthaftigkeit Pollacks steht die spielerische Leichtigkeit von George Roy Hills ungemein erfolgreichem "Butch Cassidy and the Sundance Kid" ("Zwei Banditen", 1969) gegenüber. Mit kaum zu übertreffender Spielfreude verkörpern Paul Newman und Robert Redford die beiden Banditen, die um 1900 Banken und Züge ausraubten und schließlich vor der Polizei nach Bolivien geflohen sein sollen. Perfektes Unterhaltungskino mit hohem Nostalgiewert bietet dieses von Conrad Hall brillant fotografierte und mit vier Oscars ausgezeichnete Werk. Der Humor kommt nicht zu kurz und in der wohl berühmtesten Szene des Films darf Paul Newman zu Burt Bacharachs "Raindrops Keep Falling On My Head" auf dem Fahrrad fahren und Kunststücke vorführen.

Ungleich schwergewichtiger wirkt dagegen Arthur Penns "Little Big Man" (1970), der viele Mythen des "Wilden Westen" zerstört und die Indianerkriege als das zeigt, was sie tatsächlich waren: blutige Gemetzel. Wie 20 Jahre später Kevin Costner in "Dances With Wolves" (1990) wechselt hier Dustin Hoffman als Jack Crabb, der sich im Alter von 121 Jahren an sein Leben erinnert, mehrmals die Seiten zwischen Weißen und Indianern. – Immer neue Personen werden so eingeführt und der wiederholte Schauplatzwechsel führt zu einer Fülle immer wieder überraschender Ereignisse.

Vom klassischen Western weit entfernt hat sich Penn auch dadurch, dass "Little Big Man" im Kontext seiner Entstehungszeit nicht als historischer Film, sondern als dezidierte Stellungnahme gegen den Vietnam-Krieg gelesen werden kann und muss. Wie hier die Indianer vernichtet und ihre Kultur zerstört werden, so unterdrückt die imperialistische Politik der USA die Völker der Dritten Welt und der größenwahnsinnige General Custer des Films fungiert als Stellvertreter des US-Präsidenten.

Offen für politische Lesarten sind auch die Italo-Western von Sergio Corbucci und Sergio Leone. Leones "C´era una volta il west" (1969) ist ebenso eine massive Abrechnung mit dem amerikanischen Kapitalismus und damit eine Demontage des Mythos von der glorreichen Periode der Pioniere wie Michael Ciminos "Heaven´s Gate" (1980). Schonungslos erzählt Cimino in diesem monumentalen Epos vom Kampf zwischen mächtigen Ranchern und osteuropäischen Immigranten als brutalem Klassenkampf.

Und an die Stelle der Weite und der Helle des Tages, die die klassischen Western kennzeichnete, tritt schließlich in Clint Eastwoods "Unforgiven" (1992) ein Showdown in finsterer Nacht bei sintflutartigem Regen.

Und während Monte Hellman in seinen existentialistischen Western ("Ride in the Whirlwind", 1965; "The Shooting", 1966) das Genre ad absurdum führt, indem er auf jede zielorientierte Handlung - ein Kennzeichen des Western - verzichtet, verarbeitet Jim Jarmusch in "Dead Man" (1995) zahlreiche Western-Motive zu einer Hommage und einer Totenklage auf das Genre.

The Wild Bunch - Späte Western 1960 - 1995
31. August bis 30. September 2007