Das Labor des Alain Resnais

7. Mai 2012 Walter Gasperi
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Der am 3. Juni 1922 geborene Alain Resnais gehört zu den Wegbereitern des modernen Kinos. Marksteine der Filmgeschichte sind seine ersten Spielfilme "Hiroshima, mon amour" und "L´année dernière à Marienbad", aber auch mit fast 90 ist der Franzose noch aktiv und wird seinen neuesten Film "Vous n´avez encore rien vue" im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes vorstellen. Das Stadtkino Basel widmet Alain Resnais im Mai eine Retrospektive.

Die Zeit, die Erinnerung, das Vergessen sind die zentralen Themen der frühen Filme Resnais´. Aufgebrochen hat er dazu chronologische Erzählstrukturen, lässt Gegenwart und Vergangenheit, Wirklichkeit und Möglichkeit hart aufeinander treffen. Schon mit 13 Jahren drehte er einen 8-mm Film über "Fantomas", wollte aber eigentlich Schauspieler werden. Diese Pläne zerschlugen sich aber und er wandte sich der Regie zu.

Nach den kurzen Dokumentarfilmen über Künstler ("Van Gogh", 1948; "Gauguin", 1950) folgte mit "Guernica" (1952) schon ein erster Film, in dem er über die Geschichte reflektierte. Mit den mittellangen essayistischen Dokumentarfilmen "Les statues meurent aussi" (1951), in dem die Zerstörung der afrikanischen Kunst durch den Kolonialismus kritisiert wird, und "Nuit et brouillard" (1956), in dem zur Musik von Hanns Eisler und - in der deutschen Fassung - zu einem Text von Paul Celan Bilder aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern mit heutigen Ansichten dieser Stätten des Grauens kombiniert werden, setzte Resnais die zeitkritische Linie.

Im Gegensatz zur Nouvelle vague bildet er zusammen mit unter anderem Chris Marker, Agnes Varda, Marguerite Duras und Alain Robbe-Grillet das so genannte "Rive gauche", benannt nach dem linken Seine-Ufer. Kamen die Regisseur der Nouvelle Vague über ihre Liebe zum Kino zum Film und reflektieren in ihrem Werk auch Filmerfahrungen, so sind die Filme des "Rive gauche" viel stärker literarisch geprägt, sind distanzierter und kühler.

Schriftsteller wie Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet oder Jorge Semprun lieferten denn auch die Vorlagen zu Resnais´ ersten langen Spielfilmen. Eine Revolution der filmischen Syntax brachten "Hiroshima, mon amour" (1959) und "L´année dernière à Marienbad" (1961). In beiden Meisterwerken spielen innerer Monolog und Erinnerungen eine zentrale Rolle. Lösen in "Hiroshima, mon amour" eine Liebesgeschichte zwischen einer französischen Schauspielerin, die in Hiroshima einen Antikriegsfilm dreht, und einem japanischen Architekten bei beiden Erinnerungen an den 15 Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkrieg aus, so entwickelt Resnais im von Sacha Vierny meisterhaft fotografierten "L´année dernière à Marienbad" eine Dreiecksgeschichte, bei der für den Zuschauer immer unklar bleibt, was Erinnerung, was Traum und was Erfindung ist.

Nach dem ebenfalls sehr verschachtelten "Muriel ou le temps d´un retour" (1963), der vor dem Hintergrund des Algerienkriegs spielt, wählte Resnais für "La guerre est finie", in dessen Mittelpunkt ein von Yves Montand gespielter Widerstandskämpfer gegen das Franco-Regime steht, eine lineare Struktur, doch die Erzählung wird immer wieder durch Vorausblenden aufgebrochen.

In den 70er Jahren drehte der Franzose nur zwei Filme. Weitgehend klassisch erzählte er die in den 1930er Jahren spielende Hochstaplergeschichte "Stavisky" (1974), kehrte aber mit "Providence" (1977) wieder zu seinen Wurzeln zurück, wenn sich auf einem großzügigen Anwesen für einen alternden Schriftsteller unter Alkoholeinfluss Erinnerungen und Phantasien vermischen.

Ungleich produktiver fielen die 80er Jahre aus. Begleitet vom realen Verhaltensforscher Henri Laborit blickt Resnais in "Mon oncle d´Amerique" (1980) auf die Schicksale von drei Menschen, verwebt in "La vie est un roman" (1983) spielerisch Komödie, Melodram, Märchen und Musical und reflektiert im hochartifiziellen "L´amour à mort" (1984) zur Musik von Hans Werner Henze über Leben und Tod. Bewusste Künstlichkeit kennzeichnet auch die Verfilmung des Theaterstücks "Melo" (1986) und den fünfstündigen Doppelfilm "Smoking / No Smoking" (1993) - ebenfalls eine Theaterverfilmung, in der alle Rollen von zwei Schauspielern (Sabine Azéma und Pierre Arditi) gespielt werden.

Seine Lust am Comic kommt dagegen in "I Want to Go Home" (1989) zum Ausdruck, in dem ein französischer Comic-Zeichner in den USA mit Missverständnissen und der kulturellen Verschiedenheit zu kämpfen hat. In diesem Film kann man einen kleinen Ersatz für Resnais´ großes, nie verwirklichtes Wunschprojekt, die Verfilmung des Comic strip "Les aventures de Harry Dickson" sehen.

Dass sich dieser Erneuerer des Kinos seine jugendliche Frische auch noch im Alter bewahrt hat, bewies er mit "On connait la chanson" (1997), in dem alle Dialoge gesungen werden und der sich prompt zu seinem größtem Publikumserfolg entwickelt. Und auf den melancholischen Liebesreigen "Coeurs" (2006), der schon wie ein Abschiedswerk wirkte, ließ er mit "Les herbes folles" (2009) nochmals einen ziemlich durchgeknallten Film über Zufall und Schicksal folgen, der an Frische und Experimentierfreude die Filme der meisten jüngeren Kollegen bei weitem übertrifft. Gespannt darf man somit sein, was "Vous n´avez encore rien vue" bringen wird, den Alain Resnais als seinen definitiv letzten Film angekündigt. Verdient hat sich der Franzose den Ruhestand jedenfalls, wird er am 3. Juni doch 90.

Trailer zu "L´annee dernière á Marienbad"