Cybergesund oder cyberkrank?

12. März 2016 Bernhard Sandbichler
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Der eine Prophet heißt Manfed Spitzer und schickt das Smartphone als Sündenbock in die Wüste. Die andere Prophetin heißt Jane McGonigal und entdeckt in dem milliardenmal verkauften Utensil den Schlüssel zum Paradies. Wem soll man folgen?

  • Achse 1: Diagnose
    Kognitive Defizite, somatische Störungen: nach der digitalen Demenz hat Manfred Spitzer souverän die "Datenlage zur Cyber-Pathologie" aus über 700 Studien zusammengetragen, aufgelistet und schauderhafte Krankheitsbilder gezeichnet: Morbus Google, Cyberchondrie, Nomophobie oder einfach schlechte Schlafhygiene, gestörter Biorhythmus.
     
  • Achse 2: Prognose
    Die Zukunft gehört den Gamern, lautet die McGonigals Expertise.
     
  • Achse 3: Entwicklung
    Dass dieser neue homo ludens ein Cyber-homo-ludens ist, ficht sie nicht an. Sie sieht im virtuellen Spiel Ressourcen, um gesellschaftliche, wirtschaftliche oder medizinische Probleme aus der echten Welt zu lösen.
     
  • Achse 4: Intelligenz
    Der Psychologe C. Shawn Green und die Biologin und Hirnforscherin Daphne Bavelier haben unter anderem eine Studie in der Fachzeitschrift Neuron publiziert: Children, wired: For better and for worse (2010). Spitzer zitiert sie und McGonigal rät im Appendix 2 ihres Readers: Spiel nicht mehr als 21 Stunden pro Woche; mit realen Freunden, Geschwistern und Eltern ist besser als allein oder mit Fremden zu spielen; mit diesen Vertrauten face-to-face zu spielen reduziert Aggressionen, Verhaltensprobleme, Depression; von Gemeinschaftsspielen profitieren wir mehr als von Wettbewerbsspielen; schließlich: kreative Spiele üben einen positiven Einfluss aus. So kann man das also auch sehen: Des einen Dystopia ist der andern Utopia.
     
  • Achse 5: Körper
    Sind Halbwüchsige, die nachmittageweise auf dem Fußballplatz herumballern, Süchtler?
     
  • Achse 6: Psyche
    Sind Halbwüchsige, die nachmittageweise auf dem Sofa herumballern, Zocker?
     
  • Achse 7: Alltag
    Wer vom digitalen Spieltrieb momentan am meisten profitiert sind Spieleentwickler wie Tommy Palm: Sein Candy Crush wird auf vier Kontinenten hunderte Millionen Mal pro Tag gespielt, verschiebt mit Bonbonszerdrücken täglich an die 4000 Menschenjahre vom realen ins digitale 3-Minuten-Level-Leben. Das süßeste Spiel der einen verschlingt das saure verdiente Geld der anderen, obwohl es "free-to-play" ist.
     

Jane McGonigal: Besser als die Wirklichkeit!
Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt verändern.
München: Heyne 2012, 495 Seiten, EUR 20,60

Manfred Spitzer: Cyberkrank!
Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München: Droemer
Knaur 2015, 432 Seiten, EUR 23,70