Crossing Europe 2016: Auf dem rechten Auge blind

24. April 2016
Bildteil

Gewohnt gesellschaftspolitisch aktuell zeigt sich das Linzer Filmfestival Crossing Europe (20. – 25. April 2016). Das thematische Spektrum reicht vom Ermittlungsskandal, den Andreas Maus in seinem Dokumentarfilm "Der Kuaför aus der Keupstraße" nachzeichnet, über die Kriegsverbrechen eines scheinbar biederen Belgrader Geschäftsmannes in Mirjana Karanovic´ "Dobra Zena – A Good Wife" bis zur Abschiebehaft in Lisa Aschans "Det vita folket – White People".

Am 9. Juni 2004 detonierte vor einem türkischen Friseursalon in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe. Rund 20 Menschen wurden teils schwer verletzt. Die Polizei schloss nicht nur einen rechtsradikalen Hintergrund für den Anschlag aus, sondern richtete nach anfänglichen Vermutungen über erfüllte Schutzgeldforderungen als Motiv die Ermittlungen sogar auf die Opfer, schleuste zwei verdeckte Ermittler ein, verhörte den Inhaber des Friseursalons und dessen Bruder sowie ihre Gattinnen mehrere Stunden.

Aus Opfern wurden so Täter gemacht, bis 2011 der Anschlag dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeordnet werden konnte. Nun kamen Kanzlerin Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck zu Solidaritätskundgebungen gegen Ausländerfeindlichkeit, inszenierten freilich ihre Auftritte auch medial groß, halfen letztlich aber den Betroffenen wenig bei der Überwindung der seelischen Wunden, die ihnen die Ermittlungen der Behörden in größerem Umfang als die eigentliche Bombe zugefügt hatten.

Mit den Verhörprotokollen, die von Schauspielern gesprochen werden, einem ruhigen Erzählerkommentar, Interviews mit den Betroffenen und Bildern von den Solidaritätskundgebungen zeichnet Andreas Maus akribisch die Ereignisse nach. Spannend wie ein Krimi ist diese Doku in ihrer sachlich-ruhigen Erzählweise, deckt nicht nur bestechend genau einen Ermittlungsskandal auf, sondern regt auch zum Nachdenken über ein Land nach, in dem die Behörden nicht objektiv in alle Richtungen ermitteln, sondern von Vorurteilen geleitet sich auf ein Ziel einschießen.

Die Vergangenheit ihres Mannes lieber ignorieren will dagegen die etwa 50-jährige Milena in "Dobra Zena – A Good Wife", dem Regiedebüt der auch die Hauptrolle spielenden Schauspielerin Mirjana Karanovic. Mit ihrem Mann und ihren zwei fast erwachsenen Kindern lebt sie in einer großen Villa in einem Vorort von Belgrad. Sie widmet sich dem Haushalt, kümmert sich um die Kinder, singt im Kirchenchor.

Wie eine Vorsorgeuntersuchung, bei der sie zu einer Mammographie überwiesen wird, bei Milena aber Verunsicherung auslöst, so erschüttert sie auch ein Video, das sie beim Entrümpeln eines Zimmers findet. Denn darauf befinden sich nicht nur Filme von Familienfeiern, sondern auch eine Aufnahme von einem Massaker während des Jugoslawienkriegs, bei dem ihr Mann Gefangene erschießt und Befehle dazu erteilt.

Langsam bröckelt so die Fassade von der heilen Familie, mehr nähert sie sich wieder der ältesten Tochter, mit der der Vater schon seit längerem gebrochen hat, weil sie über die Kriegsverbrechen recherchierte und sich nicht als Patriotin zeigt.

Etwas überfrachtet ist "Dobra Zena – A Good Wife" zwar, wenn beispielsweise mit der vermeintlichen lesbischen Orientierung der ältesten Tochter noch die Homophobie am Balkan ins Spiel kommt, oder mit dem Krebsgeschwür Milenas als Metapher für die verdrängten Kriegsverbrechen. Recht vorhersehbar ist auch die Handlung, dennoch folgt man dem solide inszenierten und aufgebauten Debüt nicht zuletzt dank starker Schauspieler mit beträchtlichem Interesse.

Des Genrekinos bedient sich schließlich die Schwedin Lisa Aschan in "Det vita folket – White People". Beunruhigende Stimmung erzeugt hier in der ersten Einstellung nicht nur die endlos weite Schneewüste, durch die ein schwarzer SUV fährt, sondern auch die Musik. Im Wagen wird die junge Alex in einen Bunker mit weit verzweigten Gängen gebracht. Direkt beim Einkaufen hat man die offenbar illegal im Land lebende Frau abgefangen und soll nun bis zu ihrer Deportation in dieser Anlage gefangen gehalten werden.

Beklemmende Stimmung erzeugt Ashan nicht nur durch die Konzentration auf diese unterirdische Anlage als einzigem Schauplatz, sondern auch durch die kalten Farben und das kalte Licht. Kühl blickt die Schwedin auf die Ausbruchsversuche von Alex und die Machtverhältnisse zwischen Wärtern und Insassen und zeigt in einem finalen Twist auch, wie leicht sich diese Positionen verschieben und aus Opfern Täter werden können.

So bestechend freilich die Versuchsanordnung ist, so kann "Det vita folket" letztlich weder als Genrefilm noch als gesellschaftspolitisches Statement voll überzeugen. Zu dürftig ist einfach die Figurenzeichnung, zu wenig erfährt man über die Hintergründe und zu kühl ist letztlich auch die Inszenierung, als dass dieser Film trotz seiner großen formalen und inhaltlichen Konsequenz wirklich durchgängig packen könnte.